Fraz Marc: Dear in the Forest I, 1913
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Ute Esselmann: Era Zistel – eine Hommage und Bücherbesprechung

Was geht im Kopf einer Waschbärin vor, und was bewegt ihr Herz? Die amerikanische Schriftstellerin Era Zistel (†1997) hat viele Jahre in Gemeinschaft der unterschiedlichsten Tiere in einem Blockhaus in den Catskill Mountains gelebt und etliche Bücher über ihre Wahlfamilie geschrieben. »The Good Year« wurde erstmals 1959 gedruckt. Wie alle Werke der Autorin ist es unsentimental im Ton und dennoch tief bewegend, also durch und durch lesenswert; im übrigen handwerklich fein gemacht. Kein Vergleich also zu den vielen läppischen oder langweiligen Tierbüchern dieser Tage, die die Welt nicht braucht.

»The Good Year« ist 1961 als »Das glückliche Jahr« in einer Übersetzung von Utta Danella erschienen, die mir in den Katalogen einschlägiger Antiquariate leider nie begegnet ist. Zu den Protagonisten des Buchs zählen die Ziegen Griselda und Penny samt Nachkommen, die Hündin Muff, die Katzen Quagga, Huckleberry und Co … jede/r für sich, das versteht sich im Grunde von selbst, eine Tierperson, deren Charakter und Schicksal zu fesseln vermag. Jedoch die Heldin des Buchs, seine in ihrer ernsten Verspieltheit, Bindungsfähigkeit und ‚Sangesfreude‘ rührende Hauptfigur, heißt Gretel: Ein verwaistes Waschbärenkind, das mitsamt seinem Bruder bei Zistel und ihrem Mann, dem in Wien geborenen Schriftsteller und Übersetzer Eric(h) Posselt, ein Jahr lang Schutz und Versorgung fand.

Als mutterlose Findlinge werden Hänsel und Gretel, recht ordentlich beschädigt von den Stacheln eines Stachelschweins, von einem Wildhüter an das für seine Tierliebe bekannte Ehepaar übergeben. Ziel der Unternehmung ist, die Waschbären aufzupäppeln und ihnen ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu schenken. Der scheuere Hänsel ergreift auch bald schon die Gelegenheit und verbringt die Nächte im Wald, kehrt aber regelmäßig ins Haus seiner Retter zurück, um sich mit Erdnüssen und anderen Leckerbissen ein wenig alimentieren zu lassen und seine Schwester zum Spielen ins Freie zu lotsen. Gretel liebt die Ausflüge mit ihrem Bruder, doch ihre Bindung an Haus und Menschen ist stärker ausgeprägt als die des Waschbärenknaben. Verschärfend kommt hinzu, daß sie eines Tages von Kindern gejagt und mit Steinen beworfen wird, ein Auge und eine Hand erleiden permanenten Schaden. Mit Rücksicht auf Gretels Behinderung und ihre große Anhänglichkeit bemüht sich Era Zistel, von den zuständigen Behörden eine zeitlich unbegrenzte Halteerlaubnis zu erlangen. An jenem Tag, an dem sie das mutmaßlich lebensrettende Dokument in Händen hält, ist ihre Erleichterung groß. Im übrigen tut sie viel, um Gretels Anhänglichkeit nicht ausufern zu lassen und der Waschbärin jede Wahlmöglichkeit zu erhalten.

Mit dem Spätherbst kommt die verhaßte Jagdsaison. Hänsel in seinem Waldrevier, noch kein Jahr alt, wird trotz seiner Menschenscheu von Jägern erschossen. Gretel selbst wählt die Nähe zu ihren Zieheltern. Tagtäglich hat sie Gelegenheit, das Haus zu verlassen. Ihre Verspieltheit und Neugier bringen sie nicht selten in Gefahr. Nach mehreren Beinahe-Katastrophen wird sie vorsichtiger und verbringt ihre Tage überwiegend im Haus. Wie eine Waschbärin ihren Alltag daheim gestaltet – auch das ist überaus spannend und lesenswert …

Ärgerlicherweise ist keins von Era Zistels Büchern derzeit auf regulärem Wege im deutschen Buchhandel erhältlich. Wem es gelingt, eines der alten Exemplare beim Antiquar zu ergattern, darf gewiß sein, einen Schatz nach Hause zu tragen. Das gilt zweifelsohne auch für die 1966 erschienene deutsche Ausgabe von »The Gentle People« (1964), die den irreführend seichten Titel »Lauter liebe Tiere« trägt. Zu den Verdiensten des Buchs gehört, daß es auch solche Tiere porträtiert, die man für langweilig halten könnte: In aller Ausführlichkeit stellt die Autorin ‚ihre‘ Backenhörnchen vor, jedes ein Individuum, eine Persönlichkeit für sich; und was die Erlebnisse und Eigenheiten der Beutelratten (Opossums) Ginky, Dixie und Dixie Boy angeht, so würde man am liebsten seitenweise zitieren. Aber auch Katzen, Kaninchen, Ziegen und Stinktiere, teils in bemerkenswerter Weise in artübergreifender Freundschaft verbunden, bevölkern die Geschichte. Zudem begegnen uns Hänsel und Gretel auch in »Lauter liebe Tiere«, freilich beschränkt auf ein Kapitel, in einer Weise, die sie unvergeßlich macht: »Gegen Mitternacht brachte er sie jedesmal zurück bis an die Tür und lief wieder davon. Den Rest der Nacht verbrachte sie auf meinem Bett. Meist legte sie sich am Fußende hin und arbeitete sich allmählich immer weiter nach oben, bis sie mich mit einem Schubs ihrer Nase aufforderte, die Decke zu lüften. Tat ich das, so schlüpfte sie darunter, legte ihr Köpfchen auf das Kissen, ihre kleine Hand stahl sich in meine, und ihr zufriedenes Schnurren klang dicht neben meinem Ohr.«

Era Zistel war mit Gretel gewiß nicht weniger vertraut als der Leser mit seiner Katze oder seinem Hund, und Gretels unerwartet früher Tod – sie wurde von jagenden Hunden zerrissen – muß für ihre Ersatzmutter kaum erträglich gewesen sein. Viele der Tierpersonen in Era Zistels Geschichten erleiden einen gewaltsamen Tod. So ist sie (ich möchte sagen: groteskerweise) beschaffen – ‚Mutter‘ Natur, die jeden niedermacht, der hilflos um sein Leben strampelt und nicht mithalten kann. Und zwar mit einer Unerbittlichkeit, die sich unsereins als Mitteleuropäer im 21. Jahrhundert, ausgerüstet mit Kranken- und Rentenversicherung, kaum noch vorstellen kann. Der Mensch tut sein Übriges: Viele Schützlinge Era Zistels wurden, wie angeklungen, von Jägern erschossen oder von Autos überrollt.

Daß das Leben kein Zuckerschlecken ist, davon handelt auch Era Zistels wunderbares Katzenbuch »A Gathering of Cats« (1993), eine Sammlung teils älterer, erstmals in Publikationen wie »Cat Fancy« und »Reader´s Digest« veröffentlichter Kurzbiographien, die uns Quagga, Christopher Hudson, die blinde Boo und einige andere Katzen nahe bringen, mit denen Mrs. Zistel ihr Leben geteilt hat. Selbst wer Katzenbücher dutzendweise sein Eigen nennt, wird feststellen, daß »A Gathering of Cats« dank der einfühlsamen, von Mitleid, Liebe und Solidarität durchdrungenen Geschichten und den – leider wenigen – die Wißbegier des Lesers stillenden Fotos zu den Besten gehört. Das Werk enthält teils recht drastische bzw. bittere Aussagen über Jäger und gewissenlose Halter, denen man aus vollem Herzen zustimmen kann. Ein Schönheitsfehler soll freilich nicht verschwiegen werden: Zistels Einstellung zu Tierärzten, der katastrophalen Kaputtbehandlung ihres Katers Black Boy durch einen unerfahrenen Veterinär entsprungen, klingt definitiv zweifelhaft. Sie wird sie mit den Jahren hoffentlich überdacht und korrigiert haben. Zudem hätte ich mir gewünscht, ein Statement pro Kastration zu finden. Effizienz und Zumutbarkeit dieser besten Methode, Katzenelend zu verhindern, waren zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung längst hinreichend bewiesen, um Werbung verdient zu haben.

Der grauweiße Christopher Hudson, dessen Rehblick dem Betrachter beinahe eine Gänsehaut verursacht, war Zistels erste Katze. Vor langer Zeit, es mag in den Dreißigern gewesen sein, wurde er als Winzling mit babyblauen Augen feilgeboten von drei New Yorker Jungs. Die Autorin erstand ihn für einen Viertel Dollar an der Ecke Christopher- und Hudsonstreet. »Die Gnadenfrist« lautet der Titel seiner Geschichte: Der noch junge Christopher erkrankt an einer Lähmung der Hinterbeine, die der Tierarzt für irreparabel hält. Beinahe wird Christopher euthanasiert, doch mit Hilfe eines geduldigen Chiropraktikers, der seine Hausbesuche nicht in Rechnung stellt, gelingt es, den Kater gesund zu machen. Bald danach zieht Era Zistel mit ihrem Kater aufs Land. Einen Sommer lang genießt es Christopher in vollen Zügen, mit seiner menschlichen Freundin die Gegend zu erkunden und endlich ein Kater mit Freilauf zu sein. Eines Tags kehrt er nicht zurück. Seine Halterin sucht und wartet wochenlang, aber die Natur offenbart nichts über des Katers letzten Streifzug im Wald, über seinen Tod.

»A Gathering of Cats« beschreibt, wie erwähnt, die realen Lebensläufe inzwischen längst verstorbener Katzen. Es ist sozusagen ein Gedächtnisbuch – ein sehr gelungenes noch dazu, wie es den Katzen gebührt. An dieser Stelle sei folgende Abschweifung erlaubt: Dem bewanderten Leser wird auffallen, daß Christopher Hudsons Schicksal die teils fiktive Erzählung »Biography« inspiriert haben muß, die 1944/1956 in der von Zistel herausgegebenen Anthologie »A Treasury of Cat Stories« / »Liebe zu Katzen« erschienen und von erstickender Traurigkeit ist. Deren Hauptfigur heißt ebenfalls Chris, entsprechend trägt die deutsche Übersetzung den Titel »Chris: einer Katze Lebenslauf«. Man findet die Geschichte (ebenso wie »Mildred«) auch in einigen deutschen Anthologien neueren Datums, weshalb sie einigen Lesern dieser Rezension vielleicht bekannt sein wird. Der fiktionale Chris hängt nach durchstandener Krankheit und einem Umzug umso mehr an seiner menschlichen Freundin, doch die verliebt sich und vergißt darüber ihren Kater und die gemeinsamen Spaziergänge zeitweilig. Chris trauert so sehr, daß er eines Abends beschließt, im Wald auf einem Stein zu verharren, bis SIE ihn holen kommen wird, wie es früher geschehen wäre. Doch bevor SIE ihn vermißt und ins Haus holen kann, wird er Opfer eines Fuchses. Er stirbt im Grunde also an Eifersucht. Das mag jenen Lesern übertrieben erscheinen, die nur unkomplizierte Katzen kennen, aber wer je mit einer Katze von vereinnahmendem Charakter fast schon in Symbiose und gegenseitiger Anbetung gelebt hat, weiß um die Möglichkeit eines so oder ähnlich gearteten Verlaufs. »Chris: einer Katze Lebenslauf« gehört, wie ich finde, gemeinsam mit »Die Katze« von Eugen Roth, »Säng« von Bernhard Kellermann und »Fausto« von Ana María Matute zu den Tiergeschichten der ganz besonderen Art. Ich nehme an, kein Autor denkt sich ohne Anlaß eine so furchtbare Katzengeschichte über die tödliche Wirkung von enttäuschter Liebe und Treuebruch aus. Leider kann man Era Zistel nicht mehr fragen, wie weit entfernt »Biography« von dem ist, was damals wirklich geschah.

Zu guter Letzt: In »Good Companions« (1980) schildert Era Zistel, wie es ist, mit Ziegen auf Du und Du zu sein. Eine Zeitlang wurde die Autorin dank ihrer bunt zusammengewürfelten Herde von den Dorfkindern bevorzugt »Goat Lady« genannt: Solange ihre Ziegen sich vermehren, setzt Era Zistel alles daran, für die jungen Böcke Abnehmer zu finden, die ihnen ein langes Leben ohne Schlachttod garantieren; allerdings ohne viel Erfolg. Mit Erleichterung nimmt Zistel hin, daß die Ziegen schließlich durch eine von Waschbären übertragene Infektion unfruchtbar werden. Zu ihren Lieblingen zählen Samson und Pixie. »Good Companions« führt eindrucksvoll vor Augen, wie Zistel mit beträchtlichem Kraftaufwand der altersschwachen, von Schlaganfällen gezeichneten Ziege Pixie einen fulminanten letzten Sommer beschert … Und jeden Tag, während Zistel der greisen Pixie den Weg zur Weide bewältigen hilft, werden sie eskortiert von Squeak, einem Kater ohne Jagdinstinkt, der nicht einmal Mäuse fängt. Eine Sanftmut, die das Backenhörnchen Pest bis zum Äußersten versucht, indem es einfach über ihn marschiert, um an die mit Nüssen gefüllten Taschen der Autorin zu gelangen. »Pest, don´t walk over Squeak!«

Era Zistel soll nach Auskunft des Verlegers Jeremy N. Townsend Vegetarierin gewesen sein. Dementsprechende Aussagen über die eigene Person und Ernährung habe ich in ihren Büchern nicht entdecken können. Aber wie auch immer: Die Lektüre ihrer Bücher ist überaus lohnenswert – weil klar wird, daß auch im unscheinbarsten Tier eine immer einzigartige und manchmal verblüffende Persönlichkeit steckt. Und weil sie fühlbar macht, wie sehr die Tiere um ihr Leben kämpfen müssen.

Era Zistel, deren Geburtsdatum ich trotz einiger Mühe nicht feststellen konnte (möglicherweise 1903), hat als Schauspielerin, Modell, Bibliothekarin und Schriftstellerin gearbeitet. Bevor sie mit ihrem Mann Erich Posselt beschloß, in den Catskills zu bleiben, pendelten beide mitsamt Katzen und Hund zwischen einem Apartment in New York und besagtem Blockhaus im Wald. Das Leben des Paars war nicht zuletzt wegen ihrer Fürsorge für Tiere oft von Geldnot überschattet. Erich Posselt, der aus beruflichen Gründen unter anderem mit Heinrich Mann und Arthur Schnitzler korrespondierte, muß seiner Frau ein wunderbar verständnisvoller, tierliebender Mann und Bundesgenosse gewesen sein, bevor er sich schließlich wegen Krankheit, einer desaströsen Aphasie, das Leben nahm. Era Zistel hat meines Wissens nie wieder geheiratet. Wie man dem Anhang von »A Gathering of Cats« entnehmen kann, hat sie noch zu Lebzeiten ihr Grundstück der Gemeinde überschrieben unter der Bedingung, daß das Gelände – »The Zistel Woods« – von Menschen ungenutzt bleiben muß.

»The Good Year«, »A Gathering of Cats«, »Good Companions«, »Gentle People« sowie die Kinderbücher »Wintertime Cat« (ein Foto-Bilderbuch), »Orphan« und »A Cat named Christopher« (eine Happyend-Version) sind als Paperback erhältlich bei www.jntownsendpublishing.com. Der Verlag wurde eigenen Angaben zufolge 1986 gegründet, um Bücher zu promoten, die vom Leben mit Tieren handeln und geeignet sind, Respekt vor Tieren zu vermitteln.

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