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Sina Walden: Die Tierrechtsbewegung – work in progress

Eine Geschichte der Tierrechtsbewegung in Deutschland ist noch nicht geschrieben worden. Vielleicht ist es auch noch zu früh, denn diese Geschichte ist erst rund zwanzig Jahre alt. Aber ein Rückblick und ein Ausblick sind bei einer langen Wegstrecke ab und zu nötig und hilfreich. Aussichtspunkt soll der Hügel sein, der sich im Jahr 2002 mit der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz vor unseren Augen zeigt. Es ist ein kleiner Hügel, gemessen an dem Gebirge, das vor uns liegt, aber doch eine Erhebung, die vor zwei Jahrzehnten noch nicht einmal sichtbar war. Auch der vorzeitige Tod mehrerer Aktivisten und Aktivistinnen in den letzten Jahren mahnt uns, dass wir anfangen sollten, Zeugnis abzulegen für eine Entwicklung, die noch immer nicht genügend in ihrer Bedeutung wahrgenommen wird.

Diese Bedeutung sehe ich in der Begründung eines Moralkonzepts, das mit der Einbeziehung der Tiere einen völlig neuen, revolutionären, nämlich einen artübergreifenden ethischen Ansatz in die Welt gebracht hat. Damit meine ich nicht, dass wir allein damit in absehbarer Zeit die Tiere von ihrer Bedrückung durch den Menschen befreien können, wohl aber, dass die Verbreitung dieser Ethik die einzige Chance dazu bietet. Mit den von der Tierrechtsphilosophie eingeführten Begriffen "Speziesismus" und "Anthropozentrik" läßt sich umreißen, wogegen die Tierrechtsbewegung angetreten ist – gegen die jahrtausendealte Anmaßung des Menschen, sich zum Herrn über die anderen Tiere zu erklären.

Seit Beginn der Geschichte des sogenannten homo sapiens entwickeln sich die menschlichen Kulturen entlang der zunehmenden Beherrschung der Natur im allgemeinen und der Tiere im besonderen. Es gibt genügend Funde aus vor- und frühgeschichtlicher Zeit, die das Jagen und Essen von Tieren und nach und nach deren Domestizierung, sprich Versklavung, belegen. In geschichtlicher Zeit sehen wir kein einziges Kulturkonzept, das nicht die Beherrschung der Tierwelt zur Grundlage hatte. Selbst in den scheinbar positiv abweichenden Großkulturen wie der altägyptischen, der frühhinduistischen und den buddhistischen sind es nur einige – manchmal viele – Tierarten, die dem Wert des Menschen gleichgestellt oder sogar als göttliche Wesen höher als dieser geachtet werden. Auch im antiken Ägypten wurde gejagt, auch buddhistische Mönche dürfen Fleisch essen, wenn es ihnen angeboten wird. Und der Dalai Lama trägt Lederschuhe und greift bei Empfängen fröhlich zur Fleischschüssel.

Allen menschlichen Gesellschaften ist gemeinsam, dass ihr Verhältnis zum Tier auf irrationalen Voraussetzungen basiert. Die Ausschläge nach oben und unten – zwischen Heiligung, Dämonisierung und bewußtlosem massenhaften Verbrauch – sind nur Varianten der letztlich fraglosen Überlegenheit des Menschen, der, wie ein Tyrann, mal aus Lust und Laune, mal aus Furcht, aus Eigenliebe, aus scheinbarer Notwendigkeit oder aus schierer Ignoranz den Tieren ihren jeweiligen Platz zuweist.

Um mit einem großen Sprung von der Steinzeit in die Aktualität zurückzukommen: Auch unser heutiger Umgang mit Tieren ist hochgradig irrational. Der Unterschied zu früheren Epochen ist aber der, dass er mitten in einer sich als rational verstehenden Zivilisation stattfindet. Er ist ein blinder Fleck in einem Weltverständnis, das seinen Konzepten naturwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde legt und das im geistig-politischen Bereich die egalitären Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit anerkennt.

Die Philosophin Paola Cavalieri, Mitbegründerin des Great Ape Project, das analoge "Menschenrechte" für die Menschenaffen anstrebt, definiert den moralischen Fortschritt schlechthin als Abbau hierarchischer Strukturen durch den Gleichheitsgedanken. Über das, was der ethische Inhalt des moralischen Fortschritts sein soll, herrscht weitgehend Konsens : Frieden, Gewaltlosigkeit, Freiheit von der Willkür der Stärkeren, die Verdammung grausamer Machtausübung, das Anrecht aller Individuen auf ein halbwegs erträgliches Leben. Wir wissen natürlich, dass es mit alledem noch nicht sehr weit her ist. Dennoch ist der Widerspruch unübersehbar, um nicht zu sagen schreiend, den diese im Grundsatz unbestrittenen und teilweise mindestens in den westlichen Kulturen auch praktisch oft durchaus effizient verfolgten Ziele zu der theoretischen Rückständigkeit unseres Tierverständnisses bilden – von der Praxis einmal ganz zu schweigen.

Ich meine, dass es eben dieser schreiende Widerspruch ist, der – zunächst eher gefühlt als gedacht – die Tierrechtsbewegung ins Leben gerufen hat. Es ist kein Zufall, dass diese Idee nahezu zeitgleich in vielen Ländern Fuß faßte, kein Zufall, dass sie Resonanz findet, kein Zufall, dass sie sich philosophisch immer eindeutiger auf die emanzipatorischen Konzepte stützt – den Gleichheitsanspruch für alle und seine Derivate wie Antirassismus, Gleichstellung der Frauen, Menschenrechte, Rechte von Minderheiten, von Behinderten und Benachteiligten, Individualrechte aller Art.

So lange die Ausgrenzung der Tiere aus der Moral der Menschen auch anhielt und anhält, die dank des selbstgeschaffenen gigantischen Überbaus durch Religionen und andere selbstspieglerische Gedankengebäude in Bewußtsein und Unterbewußtsein tiefe Wurzeln geschlagen hat – diese Gebäude mußten spätestens bei der Kombination der egalitären Bestrebungen mit naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen Risse bekommen. Das heutige Wissen von den kognitiven, technischen und sozialen Fähigkeiten der anderen Tiere hat die künstlich hochgespielten Unterschiede immer mehr eingeebnet und die Gemeinsamkeiten aller "sentient beings", aller fühlenden und erlebenden Wesen untermauert.

Je auffallender der schreiende Widerspruch zwischen den Ansprüchen der modernen Gesellschaft an die Bewertung und Behandlung von menschlichen Wesen und der Akzeptanz und Duldung der Greuel, die tierlichen Wesen zugefügt werden, zutage trat, desto stärker wurde seine Sprengkraft.

Ich beantworte hiermit die auf dieser Tagung gestellte Frage nach der Zukunftsperspektive mit einem klaren Ja. Die Tierrechtsidee als Fortsetzung der zeitgenössischen Moralkonzepte ist logisch zwingend und daher nicht mehr auszuhebeln, so wenig wie die Demokratie oder die Gleichberechtigung der Frau. Die zunehmende Flut der seriösen Veröffentlichungen zum Thema, die Auseinandersetzung in Philosophie und Literatur zeigt die Richtung an. Natürlich ist nicht zu übersehen, dass in der Praxis noch kaum die Oberfläche angekratzt ist und dass die Widerstände ungeheuer sind. Es ist auch unmöglich, Prognosen darüber abzugeben, wie lang die Zeiträume sein werden, die zu einer realen Umsetzung nötig wären, nicht einmal darüber, ob sie sich letztlich gegen den menschlichen Egoismus durchsetzen kann. Viel, alles wird davon abhängen, wohin sich die Menschheit entwickelt, doch die Tierrechtsidee gehört heute wesentlich zu den Motoren, die sie auf den besseren Weg zu treiben suchen und hat ihren Platz auf dem gesellschaftspolitischen Feld und nicht in einer Kuschelecke für Tierfreunde.

Meine Aufgabe hier ist es, die deutsche Tierrechtsbewegung zu schildern, besser gesagt zu skizzieren, da inzwischen so viel Material vorliegt, dass es schon für mehrere Bücher unter verschiedenen Aspekten reichen würde. Aber ich möchte doch zunächst den internationalen Rahmen abstecken, in dem sie sich bewegt und dabei meine eigene Überzeugung unterstreichen, dass es sich nicht um ein isoliertes Phänomen handelt, sondern um einen zwangsläufigen Schritt im Prozeß der westlichen Kultur. Manche sprechen auch von kultureller Evolution.

Dass die Idee in diesen Zusammenhang gehört, läßt sich zunächst vielleicht am besten ex negativo zeigen, an all dem, was die Tierrechtsbewegung – die mit gewissen Varianten auch Tierbefreiungsbewegung genannt werden kann – nicht ist. Sie ist nicht religiös, da sie keine metaphysische Verankerung hat, keine Riten befolgt, keine Heiligkeit beansprucht. Sie ist auch insofern keine Religion oder Sekte, als sie nicht einem Guru oder Propheten nachstrebt und dessen "Visionen" oder Lehren als Offenbarungen ansieht. Sie besteht auch nicht aus der Anhängerschaft eines weltlichen Vordenkers, wie oft in der Presse oberflächlich behauptet wird, wobei meist der australische Philosoph Peter Singer als der "Erfinder" des Tierrechtsgedankens genannt wird. Ebenso wenig ist sie eine politische Gruppierung, ein geschlossenes Denksystem, sprich Ideologie, eine Kaderschmiede, die ihre Mitglieder bewußt auf Effizienz und Linientreue trimmt, oder ein Wohltätigkeitsverein, der bedauernswerten Opfern eines im übrigen wohlgeordneten Systems zu Hilfe eilt. Und ihrer Herkunft nach stammt sie nicht in direkter Linie aus dem klassischen Tierschutz, wenn diese Ahnherrschaft auch nicht gänzlich verleugnet werden soll. Darüber wird gleich noch zu reden sein.

Positiv gewendet könnte sie eine "grassroot" – Bewegung genannt werden, ein Denken, das vielerorts gleichzeitig "von unten", sozusagen wie Gras aus der Erde, zu wachsen begann. Dazu sind einige Voraussetzungen nötig gewesen, aufgelockerte Erde und Samen, und die waren historisch zuerst in England und in den Ländern der angelsächsischen Kultur gegeben.

Warum gerade da, muß einer gründlicheren Kulturanthropologie zu klären vorbehalten bleiben. Die Tatsache, dass in England die ersten Tierschutzgesetze und -vereine entstanden, deren altehrwürdigster sich "Royal Society" nennen darf – was die Begünstigung durch die oberste politische Instanz, damals Queen Victoria, bezeugt – , dass sich dort die ersten Vegetariervereinigungen der Neuzeit gründeten und dass bereits im 19. Jahrhundert Parlamentsschlachten um den Tierschutz stattfanden, zeigt jedenfalls, dass da schon lange über Tiere als zu respektierende Wesen nachgedacht wird. Und Gedanken sind Samen. Der entscheidende, bis in unsere Tage fortzeugende, Gedanke wurde bekanntlich (1789) von dem englischen Philosophen Jeremy Bentham formuliert: In seinem "Es kommt nicht darauf an, ob sie sprechen, sondern dass sie leiden können" steckt die Wende von der Betonung der Unterschiedlichkeit zur Betonung der Gleichheit. Dass die heutigen radikalen Spitzen von "animal rights" ebenfalls ganz überwiegend aus dem angelsächsischen Bereich kommen, mit Schwerpunkten in den USA, dürfte mit dieser Tradition zusammenhängen. Immerhin hat der klassische Tierschutz das Leiden der Tiere wenigstens überhaupt zur Kenntnis genommen und thematisiert. Mit einiger Zeitverzögerung entfaltete im 20.Jh. die Idee von den Tierrechten aber auch in Deutschland, Skandinavien, Holland, Italien und, mit Abstufungen, überall eine Eigendynamik Ich kann nur aus eigenem Erleben berichten, dass sich der Aufbruch zum Tierrecht, wie er hierzuland spontan einsetzte, auf so gut wie keine vorgedachten Muster stützte und sich sozusagen selbst entzündet hat. Dasselbe erzählen Freunde aus Italien und sogar aus dem mit einer extrem tierverachtenden Tradition belasteten Spanien. Gerade darin sehe ich ein Indiz für die innere Logik und Zwangsläufigkeit des Tierrechts- oder Tierbefreiungsgedankens – er lag direkt auf dem Weg. Nur dass die meisten Menschen einen Umweg machen, um nicht in ihrem Weltbild darüber zu stolpern.

In Deutschland, der damaligen Bundesrepublik, wurde der "evolutionäre Sprung" um 1980 herum sichtbar. Am Beginn stehen kleine Gruppen ohne Theorie, ohne Führerschaft, ohne Geld. Sie fanden sich plötzlich im ganzen Land, druckten und kopierten handgemachte Flugblätter mit vielen Schreibfehlern, malten wilde Plakate, fanden sich bald zu bundesweiten Demonstrationen zusammen und erregten ziemlich viel Aufsehen. Die meisten TeilnehmerInnen kamen aus dem traditionellen Tierschutz, der ihnen ungenügend erschien, manche von den damals jungen Grünen und vom auch noch jungen Umweltschutz, manche von der politischen Linken, aber auch viele Einzelne, die ohne einschlägige "Vorbelastung" irgenwie spürten, dass sich hier etwas Neues und Wichtiges begab. Von heute aus gesehen mutet es paradox an, dass sich kaum "bekennende" VegetarierInnen unter ihnen fanden, schon gar keine organisierten. Den Zündfunken bildete eindeutig das Schreckenswort "Tierversuche". Fast alle Gruppierungen von Hamburg bis Darmstadt, von Ulm bis Berlin oder Kirchheim im Walde nannten sich "Tierversuchsgegner" und konzentrierten ihre Aufklärungsarbeit auf dieses Thema. Sehr früh traten auch sogenannte "militante" TierversuchsgegnerInnen auf den Plan, die durch Tierbefreiungen aus Labors und Zuchtanstalten und auch schon mal durch Zerstörung von Gerätschaften oder symbolische Brandanschläge auf entstehende Versuchsanstalten für die Problematik Aufmerksamkeit suchten.

Diese Szene der Tierversuchsgegner war, wie schon bemerkt, ohne Theorien aufgekeimt. Es standen keine Bücher zur Verfügung, von Peter Singer, Tom Regan oder anderen TheoretikerInnen hatte noch niemand etwas gehört. Höchstens die Antivivisektionsschriften des Ehepaars Stiller, beide Psychoanalytiker, kamen manchen in die Hand und wurden zitiert oder das Buch des Schweizer Autors Hans Ruesch " Die nackte Herrscherin", womit die Tierversuchsmedizin gemeint war. Kritische Äußerungen von Ärzten und Forschern dienten als willkommene Belege für das, was ohnehin gedacht wurde. Die erste Fernsehdokumentation über Tierexperimente, so mutig wie später keine mehr, hatte einen unerwarteten Effekt: Ihr Autor, der berühmte Horst Stern, bemühte sich, die schrecklichen Bilder, die er zeigte, zu relativieren und der Normalbevölkerung lediglich den Preis für ihren Anspruch an den wissenschaftlichen Fortschritt vorzuführen. Aber die Leute sahen nur die Bilder und forderten "Aufhören!" , entsetzten sich über die als barbarisch empfundene "moderne Forschung", verglichen sie mit Nazimethoden. Eine ähnlich starke Breitenwirkung erzielten, viel später, erst die Filme Manfred Karremanns über Tiertransporte.

Hier und da brauchte die so spontan entstandene und heterogene Bewegung ein paar große Namen oder Titel, um sich irgendwie zu verankern. Ich erinnere mich, wie glücklich wir über einen fulminanten Artikel von Prof. Robert Spaemann waren, dem Lehrstuhlinhaber für katholische Philosophie an der Universität München, in dem die sofortige totale Abschaffung von Tierexperimenten gefordert wurde, weil diese Praxis nicht mit der Menschenwürde vereinbar sei. Eine Druckereibesitzerin, die uns bei einer Demo gesehen hatte, druckte uns davon gratis 10 000 Flugblätter. Spenden in Hunderttausendergrößen, wie sie etwa Jürgen Möllemann für ein einziges Flugblatt mit antisemitischen Anklängen erhalten hat, wurden uns freilich zu keinem Zeitpunkt zuteil.

Es fanden sich großartige Redner – rhetorisch mitreißende wie der Journalist Ilja Weiss oder die ergraute Vorsitzende eines aufmüpfigen Tierschutzvereins, Anneliese zum Kolk, oder der blutjunge Aktionist Andi Wolff aus Berlin, der keine Bücher las, aber Tausende auf einem Platz in Bann ziehen konnte; bewegt argumentierende wie der Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper, Mitglieder der auch damals neu gegründeten Vereinigung "Ärzte gegen Tierversuche"; leidenschaftlich anklagende aus der Menge der Aktiven, die sich ans Mikrophon trauten. Nichts von alledem war gesteuert. Es gab lediglich telefonische Verabredungen und Rundbriefe, um bei Demonstrationen möglichst viele TeilnehmerInnen auf die Straße zu bekommen. Jede einzelne Gruppierung dachte sich Aktionen aus und organisierte Veranstaltungen, die möglichst Presse und Fernsehen als Multiplikatoren anziehen sollten. Dazu ist sehr vielen sehr viel eingefallen. Mit Beethoven oder Rockgruppen, Tierschreien vom Band, mit Pantomimen, Straßentheater, Satiren, phantasievollen Riesentransparenten, mit lebenden Tieren oder Pappmachefiguren, in Käfige gepreßten Menschen, mit Dachbesteigungen und lebenden Fackeln ( Stuntmen in Asbestanzügen) wurde Publikum angezogen. Go-ins in Universitäten und Sit-ins vor Labortüren und Ärztekongressen wurden organisiert, Podiumsdiskussionen, Protestaktionen, Hungerstreiks, Besetzungen von Instituten, Blockaden und natürlich immer wieder Tierbefreiungen. "Prominente" wie Barbara Rütting, Will Quadflieg, Nina Hagen oder der Atomkritiker Prof. Robert Jungk, die an Demos oder Podiumsgesprächen teilnahmen, verhalfen zu Presseresonanz

Bald erfaßte die permanente Diskussion bei den – vielerorts wöchentlichen – Gruppentreffen auch alle anderen Bereiche, bei deren legalen (!) Praktiken Tiere die Opfer sind: Pelz, Zirkus, Zoo, Jagd kamen ins Visier, Eierproduktion und Legebatterien, Massentierhaltung und Tiertransporte . Auffallend spät erst der Schlachthof und das Fleischessen.

Zwar waren die meisten MitstreiterInnen aus dem ersten Jahrzehnt im Lauf der Zeit VegetarierInnen geworden, weil sie immer dringlicher den Widerspruch zwischen dem Einsatz für Tiere an allen Fronten und der Wurst auf ihrem Teller wahrnahmen, mit dem der klassische Tierschutz noch gut leben konnte. Aber es bleibt – leider – festzustellen, dass der Impuls zum Aufbruch primär nicht aus der vegetarischen Idee kam, diese sich vielmehr aus der Ernsthaftigkeit der Ansätze und dem Umgang mit Gleichgesinnten ergab. Es wurde auch nicht viel Wesens drum gemacht und verstand sich bald von selbst. Jahrelang herrschte außerdem die Meinung vor, in der Öffentlichkeitsarbeit den Vegetarismus nicht allzu sehr zu akzentuieren, um nicht diejenigen im großen Publikum zu verlieren, die bereit waren, Unterschriften gegen Tierversuche oder Pelz zu leisten, aber bei dem Gedanken, damit auch den Verzicht auf ihr gewohntes Mittagessen zu unterschreiben, zurückgeschreckt wären. Den eigenen Vegetarismus stellte man nicht zur Schau, benutzte ihn höchstens defensiv gegenüber dem häufigen Vorwurf "Aber ihr eßt doch auch Fleisch!"

Wie rückblickend leicht zu erkennen ist, nutzte die junge namenlose Bewegung für Tiere – in der Presse immer pauschal "die Tierschützer" genannt – Mittel und Methoden, wie sie von Studenten- sowie Bürger- und Menschenrechtsbewegungen in USA und anderswo eingesetzt wurden. Und es war eine Bewegung im wörtlichen Sinn. Wir bewegten uns dauernd irgendwohin – auf die zentralen Plätze, zur Unterstützung anderer Gruppen in andere Städte, andere Länder, nach Luxemburg und Brüssel zu den Europäischen Institutionen, zu den Pharmakonzernen nach Basel, zu den Vorbildern nach England, vor die Stierkampfarena in Madrid. Diese vom Aktionismus gekennzeichnete Zeit dauerte viele Jahre, rund zehn bis fünfzehn vom Anfang der Achtziger bis Mitte der Neunziger des 20. Jahrhunderts.

Kundgebungen, angemeldete und unangemeldete, fanden in Permanenz statt und das Wort trifft gut, was beabsichtigt war: Kund zu geben, was Tieren angetan wird, und kund zu geben, dass wir darin Unrecht sehen und Änderung verlangen. Das einigende Band aller Unternehmungen war die Überzeugung, dass alles, was wir attackierten, ersatzlos abgeschafft gehört, nicht verbessert, nicht modifiziert, nicht "humanisiert", sondern abgeschafft.

Ich meine, dass in dieser uneingeschränkten Forderung der Keim der Trennung vom traditionellen Tierschutz lag, weil keine Zugeständnisse mehr an den "höheren Wert" des Menschen auf Kosten der Tiere gemacht wurden. Hier brach sich zum ersten Mal – von einigen Denkern und Denkströmungen der Antike und großen Einzelnen in späterer Zeit wie Leonardo da Vinci oder Michel de Montaigne abgesehen – der Gedanke von der Gleichwertigkeit des Tierlebens und der daraus abzuleitende Anspruch auf gleiche Berücksichtigung der nichtmenschlichen Tiere Bahn. Wenn das auch nicht so klar gesehen wurde, so ist doch hier der "evolutionäre Spung" zu erkennen. Von da erweiterte sich das Blickfeld mehr und mehr auf alles, aber auch alles, was Menschen den Tieren antun, und nur kurz währten Debatten darüber, ob dieser oder jener "Mißbrauch" ein geringerer sei, ob etwa Tiere im Zoo es besser hätten als die im Labor.

Fast unmerklich wandelte sich schon sprachlich die Selbstcharakterisierung, eine Gruppe nach der anderen änderte ihren provisorischen Namen und führte das Wort Tierrecht ins Programm ein. Typisch etwa der "Bundesverband der Tierversuchsgegner", der bereits 1983 als Dachverband vieler Ortsgruppen und -vereine von Ilja Weiss und Eisenhart von Loeper gegründet wurde und bald darauf den Zusatz "Menschen für Tierrechte" in den Namen aufnahm.

Da jede/r anpacken konnte, was ihm/ihr wichtig schien, trat einerseits eine Zersplitterung der Aktivitäten ein, das Feld wurde einfach zu groß, andererseits schärfte sich der Blick auf die eigentliche Ursache des auf allen Gebieten wuchernden Tierelends: auf die Stellung des Tieres in der menschlichen Gesellschaft, auf seine totale Rechtlosigkeit.

Nach und nach überstieg die Fülle der Aufgaben, die sich vor uns auftat, die Kräfte. Es mußte so viel Arbeit und persönlicher Einsatz an Zeit, Energie, Erfindungsgabe und eigenem Geld eingebracht werden, dass es erstaunlich ist, wie lange und intensiv es überhaupt durchzuhalten war. Eine Zoobesetzung hier, eine Jagdstörung dort, Protestaktionen gegen Zirkusse, gegen Lebendtransporte in Triest oder auf österreichischen Autobahnen, gegen Military-Reiten in Tschechien, gegen Delphinarien in der Schweiz oder in Nürnberg, gegen das "Gänsereiten" im Ruhrgebiet, Fernsehdiskussionen und, und, und. Hinzu kamen Polizeivernehmungen und Gerichtsverhandlungen.

Viele "Ehemalige" schauen immer noch mit Nostalgie auf diese heiße Phase zurück. Aber sie mußten langsam einsehen, dass auch die Tapfersten mal erschöpft sind und auch, dass Aktionsformen mit der Zeit gehen müssen. Vor allem war es wohl die Frustration, die die in den Anfängen so einheitlich und euphorisch aufgebrochene Bewegung schwächte, weil sie offenbar nichts zu bewegen schien. Meßbare Erfolge blieben aus und damit die Energiezufuhr. Die Sache und die Aktionen hatten für die Medien keinen Neuigkeitswert mehr, so dass sie das Interesse verloren, die Demos schrumpften auf zweistellige Teilnehmerzahlen.

Selbst der jahrelang linear verlaufende Anti-Pelz-Kampf, der zum Beispiel in München (mit einer Ausnahme) alle großen Pelzgeschäfte zum Aufgeben gezwungen hatte, die protzigen Pelzreklamen verschwinden ließ und vom Fernsehen sowie vielen Prominenten positiv begleitet wurde, erfuhr nach der "Wende", als sich neue Märkte öffneten, einen Rückschlag. Viele MitstreiterInnen tauchten enttäuscht wieder ins Privatleben ab.

War die Tierrechtsbewegung tot? Sie war es nicht. Sie hat nur -teilweise – ihr Gesicht gewandelt. Die Erkenntnis, dass noch so leidenschaftliche Proklamationen die Welt nicht mit einem Schlag verändern, ließ andere Vorgehensweisen entstehen. Die Grundidee hat sich nicht verflüchtigt, das kann sie gar nicht, so lange das weltanschauliche Gefüge der westlichen Welt erhalten bleibt, das sie produziert hat. Heute bedient sie sich der moderneren Kommunikationsmittel und hat sich von der Straße ins Internet begeben. Zugegebenerweise schließt das viele, besonders ältere, Menschen aus. Aber es eröffnet andrerseits neue Kontakte und Koordinationswege, beschleunigt und professionalisiert das Handeln. Seit einigen Jahren gibt es wieder sichtbare Aktionen (die übrigens nie gänzlich aufgehört haben) zum Beispiel gegen die Jagd oder solche, die da angreifen, wo es wehtut, am Geld, indem sie hartnäckige Kampagnen gegen bestimmte, zielbewußt ausgewählte Unternehmen führen, die am Tierausbeutungsgeschäft verdienen. Über solche Kampagnen werden hier andere detailliert berichten. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass dieses Vorgehen konkrete Erfolge produzieren kann wie etwa die Schließung der Pelzfarm Roßberger oder den vollständigen Rückzug der Häuser C& A und Karstadt AG aus dem Pelzgeschäft. (In England, wo animal rights – AktivistInnen auf diesem Weg schon mehrere Versuchstierzuchten zum Aufgeben gezwungen haben, läuft seit zwei Jahren eine imponierend professionell aufgezogene Kampagne gegen einen hünenhaften Gegner, das größte Tierversuchslabor Europas, HLS, das fast in den Bankrott getrieben wurde und sich nur durch die Flucht an die Börse der USA zunächst retten konnte, wo es weiter verfolgt wird. In den USA und in England findet fast jede Woche irgendwo eine Protestaktion statt, oft heftige und so militante, dass die gegenwärtige amerikanische Regierung etwa die ALF (Animal Liberation Front) schon den Anti-Terror-Gesetzen unterwerfen will, dazu politisches Lobbying auf regionaler Ebene, wodurch zum Beispiel kürzlich in Oklahoma der Hahnenkampf verboten wurde und in Florida das Verbot der Kastenhaltung von Schweinen in die Verfassung kam oder Behörden in Kalifornien das Wort "owner", Eigentümer, für Haustiere amtlich in "guardian", Hüter/ Vormund, geändert haben.) Eine verstärkte theoretische Beschäftigung ist zu beobachten, und der Informationsfluß hat sich verbessert. Die – meist schriftlich im Internet und in eigenen Zeitschriften geführten – Diskussionen spitzen viele Fragen zu, bis hin zu der Behauptung, dass es in Wirklichkeit noch gar keine Tierrechtsbewegung gebe, weil die unbedingte Forderung nach der Abschaffung jeglicher Verfügungsmacht über Tiere noch immer nicht artikuliert sei und kaum jemand unter den TierrechtlerInnen konsequent entsprechend dieser Unbedingtheit lebe. Unbeirrt ziehen andere den Karren weiter, der den mühseligen Weg über die Gesetzgebung nimmt.

Während das heißblütige, aber diffuse Unterfangen des ersten Jahrzehnts langsam aus den Schlagzeilen verschwand, entwickelte es unter der Hand immer radiklere Positionen. Ein ganz entscheidender Unterschied zu der ersten Phase ergab sich aus einem überraschenden Neuansatz. Ebenso scheinbar plötzlich wie Anfang der 80er Jahre die lautstarken Neo-TierschützerInnen auf den Plan traten und zu TierrechtlerInnen mutierten, so plötzlich tauchte Mitte der 90er allerorten eine ganz neue Spezies auf: die Veganer und Veganerinnen.

Anders als die sozusagen "erste Generation" wichen sie nicht mehr der Ernährungsfrage aus, sondern stellten sie provokativ in den Mittelpunkt. Und sie fingen bei sich selbst an. Mit Staunen begann man hier und da diese Erscheinung wahrzunehmen: Leute, die jede Puddingpackung auf ihre tierlichen Bestandteile untersuchen, die Milch und Honig, den Inbegriff irdischer Freuden seit biblischer Zeit, für kriminell erklären, alltägliche Lederschuhe ebenso verdammen wie luxuriöse Pelze und die schlichte Käsesemmel nicht minder als die Gänseleberpastete.

So weit ist in der Menschheitsgeschichte – außer vielleicht den indischen Jaina – noch niemand gegangen. Wieder hat weder die akademische Philosophie noch ein Vorbeter Vorgaben geliefert. Also wieder eine "grass root" – Bewegung, diesmal aus dem Vegetarismus herausgewachsen, der sich hier mit dem Tierrecht verbunden hat. Im grellen Lichtkegel des konsequenten Tierrechtsdenkens mußte nun auch das klassische Vegetariertum widersprüchlich erscheinen. Wie kann man das System der Fleischproduktion bekämpfen, wenn man es gleichzeitig durch den Kauf von Milch, Käse und Leder unterstützt? Wie kann man die der Kuh, dem Huhn abgequälten Produkte konsumieren, für die sie sogar mehr und länger leiden als bei der Schlachtung für ihr Fleisch? Diese vegane Logik ist unabweisbar.

Freilich ist es nicht so, dass alle, die sich der Tierrechtsidee verpflichtet fühlen, von einem Tag auf den anderen auf den neu eingefahrenen Zug gesprungen wären. Viele schaffen es aus praktischen Gründen nicht, viele blocken auch innerlich ab oder halten diese Konsequenz mindestens in der Praxis für verfrüht. Manche glauben sogar, dass der öffentliche Einsatz für den Veganismus kontraproduktiv sei, da dieser zu viel von den Menschen verlange und sie so von dem Schritt zum leichter praktizierbaren Vegetarismus abhalte. So argumentiert zum Beispiel in letzter Zeit vehement Helmut Kaplan, wobei er jedoch nicht die Richtigkeit des Veganismus als eines anzustrebenden Ziels in Frage stellt. Nach den bisherigen Erfahrungen geht tatsächlich eine kürzere oder längere vegetarische Phase dem freien Entschluß, vegan zu werden, voraus. Zwingend aber ist das nicht. Mir scheint es besonders bemerkenswert. dass eine ständig wachsende Zahl von jungen Menschen, selbst Jugendliche von dreizehn, vierzehn Jahren, ohne Umwege zum Veganismus als einer in sich schlüssigen Idee und Lebensweise gelangt, wie man täglich in den Veganforen im Internet lesen kann.

Innerhalb der Tierrechtsszene hat sich die vegane Logik ohne viele Worte immerhin so weit etabliert, dass zum Beispiel bei Treffen und Veranstaltungen meist nur noch veganes Essen angeboten wird, letzthin etwa bei dem großen "Tierrechtskongreß" in Wien im Juni 2002. Die größte Tierrechtsorganisation der Welt, die von Amerika aus operierende PETA, vertritt uneingeschränkt und offensiv den Veganismus schon seit mindestens zehn Jahren. Vegane Produkte werden in immer reicherer Fülle von spezialisierten Versandgeschäften, aber auch in Ökoläden und Reformhäusern angeboten. In Los Angeles gibt es ganze Großmärkte.

Die Rezeption dieses neuen Trends der "radikalen Tierschützer" in der deutschen Öffentlichkeit, in den Medien, bewegt sich zwischen völliger Verständnislosigkeit, kopfschüttelndem Spott und "Haut den Lukas!" Als Extremisten und Fundamentalisten werden sie betrachtet, und jedenfalls als übergeschnappt. Eine beliebte Methode ist, sie als militant und gewalttätig einzustufen. So zog sich durch den ganzen deutschen Blätterwald monatelang die Geschichte von dem armen Biometzger Matthias Groth aus Bremen, dem die rabiaten Veganer angeblich sein Geschäft mit Steinwürfen und physischen Angriffen zerstört hätten. Die spätere gerichtliche Verurteilung des Metzgers wegen Vortäuschung einer Straftat wurde fast nirgendwo mehr gemeldet. Das neue Feindbild der Normalkonsumenten war geboren, kaum dass der klassische Vegetarismus so langsam an gesellschaftlicher Akzeptanz zu gewinnen begann.

Eine zweite Methode, den Veganismus zu diskreditieren, besteht in der aufgeregten Warnung vor Gesundheitsschäden und Mangelerscheinungen. Der Fall eines angeblich durch vegane Ernährung gestorbenen Babys wird kolportiert und Eltern werden beschworen, ihre Kinder nicht solchen Gefahren auszusetzen. Allerdings, der einzige Punkt, den diese Gegnerschaft gefunden hat und mit Fleiß wiederkäut, ist das ominöse Vitamin B 12, das nur in tierischem Eiweiß enthalten sei und dessen Fehlen die schrecklichsten Folgen habe. Dieses Argument erinnert stark an die früheren Weisheiten der Ernährungslehren gegen den Ovo-Lacto-Vegetarismus, die inzwischen fast verstummt sind, so wie das B 12 – Geschrei bald verstummen wird.

Die zweite Phase der Tierrechtsbewegung, überwiegend von VeganerInnen getragen, ist stärker als die erste durch Reflexion und Selbstfindung charakterisiert und bietet daher, besonders auch wegen der Unlust der Medien, sich mit ihren Gedanken zu befassen, ein weniger spektakuläres Erscheinungsbild. Viele, besonders unter den jungen Newcomern, sind – wie ja auch ihre historischen Vorgänger, die Vegetarier – tatsächlich wenig kämpferisch, was vielleicht mit dem Ansatz über das private Leben, die Intimsphäre des Essens und des eigenen Alltags zu tun hat, und begnügen sich damit, in ihren Küchen vegane Rezepte ausprobieren und von einer Welt zu träumen, in der der Mensch nicht mehr über das Tier herrscht. Andere, bei denen vegan sein nur die Konsequenz ist aus dem primären Impuls, sich für Tiere und ihre Rechte einsetzen zu wollen, sind sehr wohl kämpferisch gesinnt und bilden heute die Speerspitze der Bewegung. Manche hardliner meinen, alle in die Pflicht zwingen zu müssen, indem sie rigoros jeden Schritt vom veganen Weg verdammen und keinem Nur-Vegetarier zugestehen, sich als Tierrechtler zu bezeichnen.

Insgesamt aber sägen die VeganerInnen an einer fast unauffälligen Stelle umstürzlerisch an der omnivoren Gesellschaft: Mit der Kompaßnadel, die "Nichts vom Tier!" anzeigt, bewegen sie sich durch die Konsumgesellschaft, erfinden und entdecken neue Speisen und Zubereitungsarten, tauschen ihre Erfahrungen aus, gründen vegane Geschäfte und auch schon Lokale, machen sich in Ernährungs- und Gesundheitsfragen kundig und schaffen auf diese Weise Eß-Kauf -und Lebensgewohnheiten, die das Tier als Ressource überflüssig machen könnten.

Und schließlich zeichnet sich die zweite Phase durch einen enormen Anstieg der tierrechtsrelevanten Literatur aus. Es erscheinen immer mehr Bücher, Essays, Aufsätze, Artikel, die die einschlägigen Fragen ventilieren. Das Mensch-Tier-Verhältnis ist zu einem Thema der professionellen Philosophie, auch der Anthropologie, der Soziologie und anderer wissenschaftlicher Disziplinen geworden. Die intellektuelle Durchdringung der riesigen Problematik findet auf hohem Niveau statt und hat das theoretische Gerüst immer tragfähiger gemacht. Auch hier geben die angloamerikanischen DenkerInnen das Tempo vor.

Hierzulande hat sich dankenswerterweise der Harald Fischer -Verlag in die große Leere auf dem deutschen Denkmarkt geworfen und publiziert laufend wichtige Bücher, die meisten aus dem Ausland. Ich habe keine Erklärung dafür, warum sich die deutschen Intellektuellen so wenig zu Wort melden, eine fast schon peinliche Verspätung. In den Feuilletons kommt Tierethik nicht vor. Immerhin erschien vor drei Wochen in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, der unter dem Titel "Treblinka der Tiere" erstmals das Thema kenntnisreich aufgreift und "die Rückkehr der Tiere im Denken der Menschen, einen intellektuellen Aufstand im Namen der Tierheit" konstatiert. Vielleicht schreckt es die deutschen ProfidenkerInnen und ihre journalistischen BegleiterInnen aus ihrem Verdrängungsschlaf auf, wenn sie unter anderm erfahren. dass Jacques Derrida, einer der gegenwärtig berühmtesten und angesehensten Philosophen der Welt, schon seit langem an einem umfangreichen Werk über Mensch und Tier arbeitet. Dass dies nicht im Sinn senes Landsmanns Descartes sein wird, kann man früheren Äußerungen Derridas entnehmen, etwa der: "Wie ist es möglich, dass die Menschen sich das Leid, das sie denen, die sie "Tiere" nennen, zufügen, so gründlich verschleiern und verbergen können?"

Wenn wir von unserem Hügel zurückschauen, fließen die Wege, die bis hierher geführt haben, ineinander, die naiv – agitatorischen, die fleißig – pragmatischen, die ungeduldig – militanten, die intellektuell – analytischen. Richtig und notwendig war der Aufbruch allemal. Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung wurde im Ausland mit Staunen und Bewunderung aufgenommen. So schlecht kann also die deutsche Tierrechtsbewegung nicht sein. Wir Insider wissen, dass dieser Erfolg bisher nur deklamatorischen Charakter hat und vor allem, dass er erst den guten alten Tierschutz aufgewertet hat und noch himmelweit von unseren Zielen entfernt ist. Aber selbst das konnte nur durch den Ansturm der Tierrechtsidee bewirkt werden. Und generell scheint mir, dass wir auf allen Wegen, die wir gegangen sind und weiter gehen, so sehr wir uns über den einen oder anderen streiten, die richtige Richtung vorgegeben haben und schon hier und da den Trend zu einer neuen Tierbewußtheit sehen, die ohne uns – und damit meine ich die TierrechtlerInnen in allen Ländern – nicht in die Welt gekommen wäre. Wer sonst hätte etwas getan, wer sonst hat etwas getan? Was wir lernen mußten, ist, dass auch die moralische Evolution ein ungeheuer langsamer Prozeß ist, und dass die PionierInnen mit Siebenmeilenstiefeln vor der realen Entwicklung herlaufen. Selbst so offenkundige Unsäglichkeiten wie Pelz, Zirkus oder Tierversuche für Kosmetik konnten in zwanzig Jahren nicht beseitigt werden, dennoch – ihre Tage sind schon gezählt. Wohin nur mit der Ungeduld? Besonders schwer sind Rückschläge und verzögernde Winkelzüge zu ertragen. Die Dickfelligkeit der Massen, die Schwerfälligkeit politischer Instanzen, die Macht kommerzieller Interessen, die Oberflächlichkeit der Medien, die Arroganz und Trägheit der meinungsbildenden Eliten – all das erzeugt immer wieder Wut und Trauer. Resignation aber erzeugt es nicht.

Vor einigen Tagen starb Rudolf Augstein. Er ist zwar von der Sache der Tiere nicht erreicht worden, aber sein Feld, die demokratische Gesellschaft, hat er so unermüdlich beackert, dass er hier für eine beispielhafte Haltung stehen soll. Er wehrte nichts so heftig ab wie die Bezeichnung als Idealist und nannte sich selbst einen Zyniker, einen, der die Welt sieht, wie sie ist und nicht wie er sie sehen möchte. Trotzdem kämpfte er bis zum letzten Atemzug für das, was er für richtig hielt, und alle Nachrufe bescheinigen ihm, dass Deutschland ein anderes, ein undemokratischeres Land geworden wäre ohne ihn. Mehr bleibt den TierrechtskämpferInnen auch nicht – weitermachen ohne sich selbst in die Tasche zu lügen, wachsam im Kleinen wie im Großen, Widerstand gegen das Falsche leisten, das Verderbliche und die VerderberIinnen attackieren, Bewußtsein schaffen. Man soll uns bloß nicht Idealisten nennen.

<b>Sina Walden</b>

<hr noshade>

Text eines Vortrags von Sina Walden auf der Tagung des Vegetarier-Bunds Deutschland &quot;Tierrechte und die vegetarische Bewegung &quot; in Kassel am 15. November 2002. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung des <a href=“http://vegetarierbund.de“ target=“fds“>Vegetarierbundes Deutschland</a>

<b>Sina Walden</b> lebt nach abgeschlossenem Jurastudium (Berlin) und Studiengängen in Literatur und Philosohpie (Zürich) als freie Publizisten, Fernsehautorin und Übersetzerin in München und Italien. Im Rowohlt Verlag erschien ihr Buch &quot;Endzeit für Tiere&quot; (leider vergriffen).<br>&nbsp;

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