Fast 2000 Jahre, in denen sich die westliche Kultur und die von ihr beeinflusste Welt unter dem christlichen Paradigma entwickelt hat; fast 3000 Jahre, wenn wir an ihre griechischen Anfänge zurückgehen; fast 6000, wenn wir ihre jüdischen Wurzeln mitbedenken – Jahrtausende sind es, die vergangen sind, bevor anno domini 2002 in einem Land dieser westlichen Kultur der Schutz der Tiere von Staats wegen in den Katalog der ranghöchsten Werte aufgenommen wurde, in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (etwas früher schon in der Schweiz). Welches Leid in diesen Jahrtausenden der Tierwelt durch Menschen angetan wurde, ist mit keinem menschenmöglichen Maß auszurechnen und auszuloten. War nicht schon längst Handlungsbedarf gegeben?
Dabei geht es bei dieser Proklamation als »Staatsziel« ohnehin nur um den Tierschutz, um einen prinzipiell schon im 19. Jahrhundert artikulierten und im ersten Drittel des 20. gesetzlich normierten Wert, der schon lange im moralischen Alltagsbewusstsein der Bevölkerung verankert ist. Die Verfassung zieht also nur mit einer bereits gefestigten allgemeinen Einstellung gleich und bietet lediglich verbesserte rechtliche Möglichkeiten, bestehende Schutzbestimmungen durchzusetzen. Darüber hinaus mag die Rangerhöhung, die Adelung, auch eine symbolische Wirkung ausstrahlen und weitergehende Entwicklungen zugunsten der Tiere in Theorie und Praxis anstoßen.
Tierrechte – die junge Idee
Doch weder in der Formulierung noch im Gehalt greift das »Staatsziel Tierschutz« die Ideen auf, die inzwischen in der weltweiten Tierrechtsbewegung virulent sind und die in der Moralphilosophie schon halbe Bibliotheken füllen.
Der Tierrechtsgedanke hat eine andere Genese und ein andere Geschichte als der Tierschutz. Als historischer Fixpunkt lässt sich eher die Französische Revolution heranziehen als der -weltliche – Beginn sozialer und humanitärer Bestrebungen mit ihren karitativen Zielen im 19.Jahrhundert, denen sich der Schutz von Benachteiligten verdankt.
Die Französische Revolution formulierte zum ersten Mal die allgemeinen Menschenrechte, wobei sie die Menschen aller Stände, Völker und Rassen gleichstellte – freilich unter Vernachlässigung einer Hälfte der Menschheit, nämlich der Frauen. Die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges wurde für diese Forderung auf der Guillotine hingerichtet. Auch Tierrechte gerieten noch keineswegs in das Blickfeld der von der Idee der Gleichheit Begeisterten. Aber der Same der Grundideen von den natürlichen Rechten jedes Individuums keimte weiter. Für die Frauen ging er über hundert Jahre später auf – und für die Tiere beginnt er erst in unseren Tagen an die Oberfläche zu dringen. »In unseren Tagen« bezeichnet einen Zeitraum, der jetzt schon etwa dreißig Jahre umfasst.
Wann und warum eine Zeit für eine Sache »reif« ist, kann in diesem Rahmen nicht untersucht werden , wenn es denn überhaupt möglich ist, kulturelle Evolution kausal zu erklären. Tatsache ist jedenfalls, dass in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Idee von den Rechten der Tiere in Analogie zu den Menschenrechten aufbrach und sich mit großer Geschwindigkeit um den Erdball verbreitete. Schon in den ersten selbstgetippten und handkopierten Flugblättern tauchte der Text des englischen Philosophen Jeremy Bentham auf, der bezeichnenderweise aus dem Jahr 1789 stammt, also vom Geist der Französischen Revolution gezeugt war. Er ist ein Eckstein der Tierrechtsbewegung und soll daher hier -auszugsweise- im Wortlaut zitiert werden: »Der Tag wird kommen, an dem auch den übrigen lebenden Geschöpfen die Rechte gewährt werden, die man ihnen nur durch Tyrannei vorenthalten konnte. Die Franzosen haben bereits erkannt, dass die Schwärze der Haut kein Grund ist, einen Menschen schutzlos den Launen eines Peinigers auszuliefern. Eines Tages wird man erkennen, dass die Zahl der Beine, die Behaarung der Haut und das Ende des os sacrum sämtlich unzureichende Gründe sind, ein empfindendes Lebewesen dem gleichen Schicksal zu überlassen.«
Hier knüpft auch der australische Philosoph Peter Singer an, der heute in den USA an der Universität Princeton lehrt. Sein Buch »Animal Liberation« erschien 1975 und bildet einen Meilenstein der modernen, rational begründeten Tierethik. Es ist jedoch nicht so, dass dieses Buch die Tierrechtsbewegung ins Leben gerufen hat, wie es häufig in der Presse heißt, die Singer auch gern als eine Art Guru bezeichnet. Vielmehr hat er auf hohem argumentativen Niveau einer »Grassroot«- Bewegung Ausdruck verliehen, die »von allein« entstanden war. Am ehesten lässt sich seine Wirkung mit der Rousseaus im 18. Jahrhundert vergleichen. Ähnlich bedeutsam wurden die Arbeiten des amerikanischen Philosophieprofessors Tom Regan, besonders sein Buch »The case for animal rights«, das 1983 in den USA publiziert wurde und (unglaublicherweise) erst jetzt, im Herbst 2002, in deutscher Übersetzung erscheint.
Beide gehen bereits über Bentham hinaus, indem sie die revolutionäre Frage nach dem Recht zum Töten von Tieren stellen und auch den Fleischkonsum nicht mehr moralisch rechtfertigen. Inzwischen ist die Menge der Publikationen zum Thema Tierrechte nicht mehr zu überblicken, wobei anzumerken ist, dass Deutschland weit hinter den angelsächsischen Ländern zurückliegt und erst in den letzten Jahren in größerer Zahl Bücher auf den Markt kommen.
Die »grassroots« begannen in England und der englischsprachigen Welt zuerst zu sprießen und dort wachsen sie auch am schnellsten, dichtesten und höchsten. Aber natürlich hat auch da die Umsetzung in die Praxis noch nicht stattgefunden. Die zwei bis sechs Jahrtausende anthropozentrischen Denkens bilden eine schier uneinnehmbare Festung. Und diese Festung ist ja nicht ein Luftgebilde im geistigen Raum, sondern hat sehr reale Auswirkungen, die mit handfesten Interessen verbunden sind. Noch dazu mit Interessen, die fast jedem einzelnen Menschen Vorteile bringen. Selbst Kopernikus hat keine so titanische Aufgabe in Angriff genommen, als er den Planeten Erde aus dem Mittelpunkt des Universums verbannte, wie es der kleine Tierrechtler von heute tut, der sich anmaßt, den Menschen von seinem Thron oberhalb aller anderen Kreaturen zu stürzen.
Alle heutigen Tierrechtler/ innen, ob auf akademischem Terrain oder überall sonst, fordern für Tiere die elementaren Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit ein. Das heißt nicht, dass alle die gleichen Wege beschreiten oder für richtig halten, das heißt auch nicht, dass es nicht zahllose Unterschiede in Begründungen, Grenzziehungen und Zielvorstellungen gäbe und tausend Einzelfragen diskutiert würden. Es gilt ja, ein Feld zu beackern, das völlig neu in der Menschheitsgeschichte ist. Es geht um einen nie dagewesenen Paradigmenwechsel: um die Abkehr von der Anthropozentrik.
Der plausibelste grundsätzliche Einwand gegen diese ganze Richtung ist der, dass sie dem angeborenen Artegoismus widerspreche. Anders gesagt: Wenn die Natur selbst oder Gott die Gattung Mensch mit solch einer überragenden Intelligenz ausgestattet hat, dass sie ihn zum Herrscher über alle Tiere machte, so sei das unabänderlich, eben »natürlich«. Wir wollen diese Sicht unkommentiert stehen lassen und als Diskussionsstoff anbieten.
Der große Sprung der Affen von Neuseeland
Aber diejenigen, die das Mensch-Tier-Verhältnis als eine menschengemachte und also prinzipiell veränderbare Einrichtung ins Visier genommen haben, bringen ihre Sache zur Zeit in kleinen und größeren Schritten täglich voran.
Heute wollen wir einen der größten Schritte betrachten, der auf diesem Weg bisher gegangen wurde: Die Zuerkennung von »Menschenrechten für Menschenaffen« in Neuseeland. Diese plakative Formulierung muß allerdings gleich eingeschränkt werden: Die »great apes« von Neuseeland haben nur ein einziges » Menschenrecht » erhalten, nämlich das, dass sie nicht im Namen der Wissenschaft für menschliche Interessen gefoltert und getötet werden dürfen. Experimente an Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans wurden vom Parlament in Neuseeland mit dem Amendment 85 zum dortigen Tierschutzgesetz Ende 1999 verboten. (Es ist sogar dafür noch eine Ausnahme vorgesehen: Bei Versuchen, die dem jeweiligen Menschenaffen selbst oder seiner Gattung zugute kommen, kann unter strengen Voraussetzungen eine Einzelgenehmigung erteilt werden – vorausgesetzt, dass das dem Tier zuzufügende Leid den zu erwartenden Vorteil nicht übersteigt.)
Ist das nun schon ein Recht, das dem Art. 2 Abs.2 des Grundgesetzes entspricht, in dem es heißt: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« und das in ähnlicher Form in allen Verfassungen der »zivilisierten« Welt und in der »Deklaration der Menschenrechte« der UN von 1948 enthalten ist? Ist hier die Überschreitung der Artengrenze erstmals in der menschlichen Gesetzgebung vollzogen worden? Oder handelt es sich es doch nur um einen besonderen Schutz für eine besonders gefährdete Tierart? Der flüchtige Blick auf den Gesetzestext lässt beide Interpretationen zu .
Aber es spricht doch alles dafür, dass wir es hier mit der ersten Frucht des Tierrechts – und nicht mit einer späten Frucht des Tierschutzdenkens zu tun haben.
Zum ersten: Würde es sich um eine Maßnahme des Tierartenschutzes handeln, wäre die Beschränkung auf Menschenaffen willkürlich, da auch andere Arten gefährdet sind, viele noch stärker als die Großen Affen. Zweitens ist der ausdrückliche Bezug auf Tierversuche (in Forschung und Lehre) aufschlussreich. Nicht der Bestandsschutz einer Spezies ist das Ziel, sondern offensichtlich die Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit des Individuums.
Denn innerhalb des Schutzes der physischen Integrität wird die Rechtfertigung einer Verletzung durch ein »höheres« menschliches Interesse nicht mehr gewährt – eine Obergrenze, die vom klassischen Tierschutz, der ja ebenfalls Grausamkeit und bewusste Zufügung von Schmerzen verurteilt, letztlich respektiert wurde und wird. Hier, in dem neuseeländischen Gesetz, manifestiert sich ein entscheidender Grundzug der Menschenrechtsidee, wonach – in der Formulierung Kants – der Mensch nicht Mittel zum Zweck sein darf. Eben dies wird nun erstmals einer Tierart zugestanden. Das wurde trotz der unauffälligen Positionierung der Vorschrift auch sofort überall erkannt und als »groundbreaking«, als Durchbruch, gesehen.
Dennoch: Ist es logisch schlüssig, die durch menschliche Interessen nicht einschränkbare Unverletzlichkeit des Körpers nur den Menschenaffen zuzugestehen? Widerspricht das nicht dem Grundgedanken des Tierrechts, der da etwa lauten müsste: »Alle Tiere sind frei und gleich geboren« ?
Doch, der Widerspruch ist zuzugeben. Aber er ist nur taktischer Natur. Es ging darum, einen Gebirgspass zu finden, wo und wie man auf gesetzlichem Weg personale Rechte für Tiere einführen kann. Offensichtlich wäre der Sprung, allen Tieren auf einmal mit einem Federstrich des Gesetzgebers Grundrechte zu gewähren, zu groß. Von dem gewaltigen Widerstand der Vertreter wirtschaftlicher Interessen und der Macht der Essgewohnheiten einmal rein theoretisch abgesehen, würde eine Art Gleichberechtigung der Tiere das Selbstverständnis der heutigen Menschen entschieden überfordern. Drei Jahrzehnte eines neuen Denkens sind ein zu winziger Zeitraum, um an den Fundamenten der Pyramide zu rütteln, auf deren Spitze sich der Mensch sieht.
Die Tierrechtsbewegung kümmert sich wenig um die ohnehin in absehbarer Zeit nicht realisierbare Umsetzung ihres Programms in die rechtliche Praxis, feilt aber unentwegt an ihren Theorien und an der erhofften Bewusstseinsveränderung breiter Bevölkerungsschichten, etwa der nachwachsenden jungen Generationen. Vorstöße wie der in Neuseeland können nur unter besonders günstigen Gegebenheiten und in Teilbereichen gelingen. Einige dieser günstigen Bedingungen lagen hier vor, etwa die, dass es nur wenige Menschenaffen in diesem kleinen Land gibt, aber auch dass der Tierrechtsgedanke in der angelsächsischen Sphäre schon tiefer verankert ist und nicht mehr wie eine utopische »Übertreibung« wirkt. Vielleicht hat es auch etwas mit Pioniergeist zu tun? Neuseeland war das erste Land der Welt, das das Frauenstimmrecht zugelassen hat – 1893.
Sind alle Tiere gleich?
Dass es gerade die vier Großen Affenarten sind, die ein Stück weit in den exklusiven Kreis der Inhaber von Grundrechten aufgenommen wurden, ist zwar den Mäusen gegenüber nicht gerecht, vom Menschen aus gesehen aber auch nicht zufällig. Der Grund liegt auf der Hand: Sie sind unsere nächsten Verwandten. Bisher hat ihnen das nicht viel genutzt, im Gegenteil. Sie dienten auf Jahrmärkten und in höfischen Menagerien und dienen immer noch im Zirkus und im Zoo als Zerrspiegel für den emporgekommenen Artgenossen, der belustigt oder mit Abscheu auf die eingesperrten Ahnen herabblickt. Die Ähnlichkeit besonders der Schimpansen mit unseresgleichen hat sie zu beliebten Objekten der medizinischen und psychologischen (!) Forschung, der Neurophysiologie und der Genetik werden lassen. Nachdem die Empörung über Darwins Abstammungslehre abgeklungen war, drehte der listige Mensch sie zu seinen Gunsten: Da hat eben Gott oder die Evolution erst probiert; der Vorfahre ist eine Art Ausschussware, aus der man einige Erkenntnisse über den Weg zu der eigenen Vollkommenheit gewinnen kann.
Zoologisch wurden die Primaten ganz nüchtern mit dem homo sapiens in einer Gattungsgruppe zusammengefasst, moralisch und rechtlich blieb der Abgrund zwischen Mensch und Tier erhalten. So konnte über den Schimpansen im Schottenröckchen auf dem Fahrrad weiterhin gelacht werden, die putzigen Jungen konnten weiterhin ihren Müttern, die man notfalls erschießen musste, entrissen werden, um sie zur Belehrung der eigenen Jungen lebenslang hinter Gitter zu stecken, man konnte sie absichtlich mit menschlichen Krankheiten wie Hepatitis und Aids infizieren und in ihren Gehirnen mit Sonden nach der Wahrheit suchen. Ihre Schmerzen und Leiden, wenn sie auch heute nicht mehr wie von Descartes und seinen zahllosen Nachfolgern für gar nicht vorhanden erklärt werden, können einfach nur deshalb, weil sie keine Menschen sind, als unbeachtlich gelten, und ihre Tötung wiegt nicht schwerer als das Abbrechen einer Blume.
Dies alles gilt – mit den entsprechenden Abwandlungen – natürlich auch für alle anderen Tiere, und für viele, die sich aufgemacht haben, die elementaren Grundrechte für sie alle zu erkämpfen, ist die Abstufung nach dem Verwandtschaftsgrad zum Menschen immer noch zu anthropozentrisch. Auch das zoologische Ordnungssystem erscheint nicht zwingend.
Aber hier muss deutlich zwischen theoretischer und praktischer Ethik unterschieden werden. In der moralphilosophischen Theorie ist noch viel Raum für andere Denkansätze. Denn es ist zuzugeben, dass das Modell der Menschenrechte nicht auf sämtliche Tierarten passt, zum Beispiel ist es kaum auf Insekten, Reptilien oder Korallen anwendbar. Nicht weil sie von Tierrechtlern für gering erachtet würden, sondern weil das Modell schlechterdings nicht passt und nicht praktikabel ist.
Doch was zwingt uns, das Wort »Tier«, das ausnahmslos sämtliche nichtmenschlichen beweglichen Lebewesen umfasst, als Prokrustesbett zu benutzen? Warum sollten denjenigen Tierarten Rechte verweigert werden, die für sie sinnvoll und geboten sind, nur weil sie für andere Arten nicht sinnvoll sind? Warum muss man das Pferd rechtlos lassen, weil der Wurm die Kriterien der Rechtsfähigkeit nicht erfüllt?
Unser Grundgesetz macht es sich leicht und spricht nur von »Tieren« ohne feinere Unterscheidungen. Und meint vermutlich dieselben, die das Moral- und Rechtskonzept der Tierrechtler im Auge hat: Säugetiere und Vögel. Die Reihenfolge, in der ihnen – vielleicht – Grundrechte zufallen, ist aber nicht Programm der Tierrechtler. Man nimmt sozusagen, was man bekommen kann. Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass demnächst irgendwo Grundrechte für die dem Menschen emotional am nächsten stehenden Tiere etabliert werden, für Hund und Katze, die er als Familienmitglieder in seine Wohnungen aufgenommen und von sich abhängig gemacht hat. Oder vielleicht sind es die Wale, die diesen Status als nächste erhalten?
Wozu Rechte?
Die praktische Ethik des Tierrechtsgedankens setzt nicht an den Rändern, den Spitzfindigkeiten, den Grenzfällen an, etwa an den Übergangsformen zwischen Tier und Pflanze. Es ist klar, worum es geht: um einen praktischen, realen, konkreten, durchsetzbaren, effizienten Schutz für die Tiere, über die der Mensch Macht ausübt: »Nutz«tiere, Versuchstiere, Tiere bei Sport, Spiel und Vergnügen, Heimtiere und Wildtiere in unseren Wäldern, unserem Luftraum und unseren Gewässern; dazu auch um Importe aus anderen Weltgegenden, die unserem »Staatsziel« und eben auch dem Tierrechtsbegriff widersprechen. Es bleibt die Frage, ob es dafür eines Rechtsstatus bedarf oder ob wir nicht mit einem erweiterten und juristisch verschärften Tierschutz auskämen, der insofern sogar weiträumiger ist, als er keine Grenze an der Vergleichbarkeit mit dem menschlichen Wesen findet.
Dagegen spricht vor allem die geschichtliche Erfahrung. Den Tierschutz gibt es in den meisten westlichen Ländern seit über hundert Jahren, wenn auch mit gewaltigen Unterschieden und einem deutlichen Gefälle von Nord nach Süd. Entsprechende Bestimmungen wurden etappenweise auch verbessert. Das Ergebnis aber kann nicht zufriedenstellen. Unter dem geltenden Tierschutzrecht und ungeachtet der Tatsache, dass ihn jede/ r im Munde führt, ist es zu Eskalationen der Tierausbeutung und Qualzufügung gekommen, die seit den Zeiten der römischen Arena ihresgleichen nicht findet. Aus dem Versagen des klassischen Tierschutzes hat sich der Tierrechtsgedanke überhaupt erst entwickelt. Denn der Tierschutz steht unter zwei widersprüchlichen Vorzeichen: Seid gut zu den Tieren – und nutzt sie gleichzeitig für all eure Zwecke, die immer Vorrang haben.
Zum zweiten wurde es immer unbefriedigender, die anschwellenden Erkenntnisse über das komplexe innere und soziale Leben der Tiere aus der Verhaltensforschung, der kognitiven Ethologie und anderen naturwissenschaftlichen Bereichen zu negieren.
Der entscheidende Faktor aber scheint mir die Eigendynamik des Gerechtigkeitsbegriffs zu sein, der allen demokratischen Gesellschaften zugrundeliegt.
In Sklavenhaltergesellschaften, wie sie die abendländische Antike kennzeichnen, gab es durchaus gewisse Schutzbestimmungen für Sklaven – im Interesse ihrer Herren. Kein Geringerer als Aristoteles hat der Sklaverei eine affirmative Begründung als einer »natürlichen« Einrichtung gegeben, übrigens recht beiläufig, da sie so selbstverständlich war, dass es eine gründliche philosophische Betrachtung nicht lohnte. Es gäbe eben geborene Sklaven und Herren. Wenn wir uns damit begnügen, vom heutigen Standpunkt aus Sklaverei zu verurteilen, weil Menschen nicht im Eigentum anderer stehen können, so begründen wir unseren Abscheu nur tautologisch, indem wir vom modernen Menschenbegriff ausgehen. Zu diesem Begriff gehören die Würde und die Freiheit des Willens. Wie wir aber aus der bloßen Existenz der alten Sklavengesellschaften (und anderer Formen wie etwa der russischen Leibeigenschaft oder dem indischen Kastensystem) sehen, ist unser Menschenbegriff nicht einfach »natürlich«, sondern eine Folge kultureller Prägungen. Ein noch so musterhaftes Sklavenhaltersystem, mit denkbar umsichtigen Schutzbestimmungen, würde sich nicht mit unseren Vorstellungen vertragen.
Heute ist es immerhin denkmöglich geworden, dass einmal die »unantastbare Würde« auch zum Tierbegriff gehört.
Neuseelands Great Apes – ein erster Schritt zu Grundrechten für Tiere ?
Die Implementierung eigener Rechte für Tiere in Analogie zu den Grundrechten für Menschen knüpft an den Kriterien an, die auch für die Menschenrechte konstitutiv sind: Leidensfähigkeit, Erlebnisfähigkeit, das Vorhandensein von Gefühlen, von eigenem Willen, irgendeinem Grad von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit usw. Legt man diese Kriterien für »natürliche Personen« zugrunde, ist es folgerichtig, diesen angeborenen Eigenschaften, die nicht an der Gattung Mensch plötzlich aufhören, auch den rechtlichen Raum zu verschaffen und die damit einhergehenden Interessen zu sichern. Den häufig vorgebrachten Einwand, Menschenrechte beruhten auf einem »Vertrag« der Menschen untereinander, auf einer Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten, was auf Tiere nicht übertragbar sei, lassen wir hier beiseite. Die Vertragstheorie ist nicht unbedingt schlüssig, vor allem aber sind die Menschenrechte für die Praxis als Abwehr gegen Machtmissbrauch »erfunden« worden. Die Lebenserfahrung vieler Jahrhunderte und Jahrtausende zeigt, dass das »Recht des Stärkeren« eine ungeheure Durchsetzungskraft hat (wobei es in vielen Verkleidungen daherkommt, auch als Legalität oder Tradition), und dass die bewusste Setzung hochbewehrter Individualrechte sich als das einzige probate Gegenmittel bewährt hat.
Diese Individualrechte umfassen beim Menschen ein breites Spektrum. Viele davon sind für Tiere nicht notwendig, da sie ihren artgebundenen Interessen nicht entsprechen; über Absurditäten wie Glaubens- und Gewissensfreiheit für Tiere diskutiert hier keiner. Einige aber, wie Leben und Freiheit, sind so elementarer Natur für Menschen und Tiere, dass es der Logik der Gerechtigkeit widerspricht, sie den einen zu gewähren und den anderen zu verweigern. Diese elementaren Interessen in Verbindung mit der Fähigkeit, ihre Erfüllung oder Verletzung zu erleben und zu erleiden, bilden die gemeinsame Basis für eine Rechtsgemeinschaft.
Inzwischen ist es nicht mehr allein die naive Beobachtung, dass – mindestens – die Säugetiere ähnlich erleben wie wir, dass sie z.B. Muttergefühle, Trennungsschmerz, Zuneigung und Abneigung kennen, Bindungen eingehen, einen eigenen Willen haben, körperliche und seelische Schmerzen fühlen, der Gefangenschaft und dem Tod auszuweichen trachten.
Dies alles und noch vieles mehr ist heute auch wissenschaftlich gesichert und damit willkürlicher Wahrnehmung und Beurteilung entzogen. Darüber hinaus haben die Naturwissenschaften endlich auch die kognitiven Fähigkeiten der Tiere ins Blickfeld genommen und viele der von den eigenen Fachkollegen früher aufgestellten Barrieren eingerissen. Dabei ist die scharfe Abgrenzung zwischen Mensch hier und Tier dort stark ins Rutschen geraten. Es ist daher kein Zufall, dass die Forderung nach Rechten auf der Grundlage der gleichen oder sehr ähnlichen Eigenschaften da am lautesten erhoben wird, wo sie am evidentesten sind und am einleuchtendsten durch forschende Beobachtung bestätigt wurden.
Heute weiß schon jeder Laie, dass Schimpansen über 98,5 genetisches Material mit dem homo sapiens gemeinsam haben, dass sie die Zeichensprache der Taubstummen erlernen können, ein komplexes Sozialleben besitzen, ein Ich-Bewusstsein haben usw. Die Konsequenz, solchen Wesen den entsprechenden Rechtsschutz zu gewähren, ergibt sich daher zwingend aus dem Gleichheitsprinzip.
Bei den Great Apes ist die »Personalität« im Sinne Peter Singers nur am offensichtlichsten und am populärsten, unter anderem durch die großartige Lebensarbeit von Jane Goodall und anderen Feldforschern, unter ihnen auffallend viele Forscherinnen. Die Voraussetzungen sind aber auch bei vielen anderen Tierarten gegeben, so bei den übrigen Primaten, bei allen Säugetieren (einschließlich verschiedener Meeresbewohner) und den Vögeln.
Rechtssetzung in der Demokratie muss sich jedoch weitestgehend an herrschenden Vorstellungen orientieren, und erst ab einem gewissen Grad von Mehrheitsüberzeugung können Normen gesetzt werden, auch dann wenn Minderheiten ethisch oder sogar wissenschaftlich besser begründete Werte vertreten. Anders als bei Schweinen und Hühnern, die sie gern essen wollen, tendieren bei den Menschenaffen immerhin bereits heute Mehrheiten in der westlichen Kultur zur Anerkennung ihrer Grundrechte. Ohne dies expressis verbis zuzugeben, sind auch die Tierexperimentatoren schon vor dem Gewicht der gewandelten Sichtweise zurückgewichen: Auch ohne Gesetz werden in den meisten europäischen Ländern, darunter Deutschland, keine Versuche an Menschenaffen mehr vorgenommen; Holland hat – nach 11jährigem Kampf einer entschlossenen Tierrechtsorganisation – gerade beschlossen, über 100 Schimpansen aus seinem berüchtigten Primatencenter BPRC in Rijwijk freizugeben und die Versuche endgültig einzustellen. Das generelle gesetzliche Verbot wird mit einiger Sicherheit auch in ganz Europa kommen. Ein 1993 von Peter Singer, Jane Goodall und rund dreißig hochrangigen Wissenschaftlern und Experten initiiertes »Great Ape Project« will über die UN den nächsten Schritt gehen und ein vollständiges Verbot der Tötung, vorsätzlichen Verletzung und Gefangennahme von Menschenaffen erreichen.
Ob der Weg über die Menschenrechtsanalogie für alle in Betracht kommenden Tiere gangbar ist, muss dahingestellt bleiben. Irrationale Elemente wie die unterschiedliche Beliebtheit von Tierarten und die unterschiedliche Verbreitung von Kenntnissen, wie die Eßgewohnheiten und andere starke Traditionen, vor allem auch die menschliche Eigenliebe, können sich der Idee vom gleichen Recht »for all sentient beings« so massiv entgegenstellen, dass auch die logisch und ethisch saubersten Argumente daran abperlen. Wenn aber parallel zu den Bestrebungen, kodifizierte Eigenrechte für Tiere zu schaffen, die Achtung vor Tieren und die Teilnahme an ihrem Schicksal gefördert und erkämpft und die menschliche Überheblichkeit gegenüber anderen, aber nicht minderwertigen Mitlebewesen abgebaut wird, fällt vielleicht ein neuer Rechtsstatus als reife Frucht vom Baum der Erkenntnis – wie ein guter neuseeländischer Apfel.
Herkunft – mit freundlicher Genehmigung
Vortrag bei der Tagung der Katholischen Akademie Mülheim »Die Wolfsburg« vom 21. / 22. Juni 2002 unter dem Veranstaltungstitel »Von heiligen Affen und tierischer Unschuld«. Der Text wird in einer Dokumentation der Akademie Mülheim zusammen mit den Vortragstexten anderer Referenten im Herbst veröffentlicht, voraussichtlich unter einem anderen Tagungstitel. Zu beziehen bei der Katholischen Akademie Mülheim, Falkenweg 6, 45478 Mülheim/Ruhr, email: wolfsburg@bistum-essen.de