Henri Rousseau: Exotic_Landscape
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Guido Ceronetti: Bekenntnisse und Erinnerungen eines Eurovegetariers

Doch, es hat einen gewissen Fortschritt gegeben. Der Vegetarier wird endlich nicht mehr als eine Art seltsames Tier betrachtet, als Objekt wissenschaftlicher Neugier und dümmlichen Staunens. Die vegetarische Ernährungsweise wird heute allgemein verstanden, obschon nur eine kleine Minderheit danach lebt; nach strengem Maßstab tatsächlich nur sehr wenige. In meinem Umkreis haben sich jedenfalls die inquisitorischen Fragen verloren, unter denen ich lange zu leiden hatte: »Warum denn? Und was isst du stattdessen? Woher nehmen Sie die Proteine? Sind es gesundheitliche oder gefühlsmäßige Gründe? Auch nicht mal gelegentlich= Was! Nicht mal Fisch?! Hast du nicht manchmal Lust auf ein Steak?«

Das Wort Steak wird immer von dem Adjektiv »schön« begleitet. Der Italiener sagt automatisch »eins schönes Steak«. Ich weiß nicht, welche Art Schönheit einem Steak zuzusprechen ist, mir scheint es ziemlich weit entfernt von der Beatrice des Guido Reni oder der Kathedrale von Trani. Also wirklich, es wurde langsam lästig, ständig auf derlei Geschwätz eingehen zu müssen, zumal über drei Viertel der menschlichen Beziehungen aus Smalltalk bestehen und man so über drei Viertel davon mit der Beantwortung (meist) idiotischer Fragen verbringt. Ich sage nicht, dass mir überhaupt keine derartigen Fragen mehr gestellt werden, aber »Einst war ich jung, jetzt bin ich alt« (Psalm 37) – die Schwärmzeit jener Stechmücken ist vorbei, sie lassen sich nur noch selten vernehmen.

Auch in den nicht-vegetarischen Restaurants wird heute der Gast, der erklärt, dass er kein Fleisch möchte, nicht mehr wie eine Küchenschabe angesehen. Es war ein Kreuzweg, jetzt ist Auferstehung. Es handelt sich um eine Veränderung von der Art, die man in hochgestochenen Reden als »epochal« zu bezeichnen pflegt. Wahrhaftig, es ist schon eingetreten, das New Age! Da hat es einen beträchtlichen Wandel gegeben in den versteinerten Gewohnheiten des gastronomischen Gefildes. Der Kellner, der die Bestellung aufnimmt, verzieht nicht mehr den Mund in unsagbarem Widerwillen vor dem armen Schlucker, der nicht in einem Meer von »Schönen Steaks« herumrudert. Aber wie viele Demütigungen! Wie viele Verlegenheiten! Manchmal warst du sogar gezwungen, dich zu rechtfertigen: »Wissen Sie, meine Leber…« Eine Leber, die einen Dorsch neidisch machen könnte – aber dem Kellner, dem Maître, gegenüber musste man ein Bild des Verfalls abgeben. Die Leber war an allem schuld… Du warst vielleicht nicht sehr glaubwürdig, aber wenigstens konntest du so ein Minimum an Akzeptanz bewirken.

Und dieses Jahr ist nun das vierzigste meines Lebens als Vegetarier; ich habe es zu meiner Genugtuung – jedenfalls, was das anbetrifft – bei völliger körperlicher und geistiger Gesundheit erreicht. Anfangs hatte unser ausgezeichneter Hausarzt nur den Kopf geschüttelt und mir eine baldige Anämie mit tödlichem Ausgang vorhergesagt. Besorgte Gesichter um mich herum: »Aber hör nicht auf einen Schlag auf! Du erholst dich nie mehr davon!« Nun, ich war nicht der Asket Ramakrishna: Ich hörte schrittweise auf, ich war nicht einmal sicher, ob ich es ganz schaffen würde. Fleisch, auf bestimmte Arten zubereitet, schmeckte mir durchaus. Nur gegen Fisch hatte ich schon vor der Geburt eine unüberwindliche Abneigung.

Mit Van Goghs armseligen »Kartoffelessern« fühle ich eine gewisse Verwandtschaft, aber Fischesser (die Hälfte der Welt und mehr) erscheinen mir wie Außerirdische, obwohl ich hin und wieder, wenn es sich ergibt, menschliche Worte mit ihnen wechsle. Seltsamerweise ziehen mich aber Fischbratstuben am Meeresstrand an, dieser Strudel des Lebens, dieses Gewimmel von Existenzen, wohl weil leben dasselbe ist wie angeschmiert und »verbraten« werden – und keine Pfanne dafür ausreicht.

Und noch einen Botschaft gibt es – ich möchte diese appetitanregende zweite Jahrhunderthälfte dafür preisen: Überall entstehen rein vegetarische Restaurants! Die Städte, die keine haben, sind tote Städte. Der Aufenthalt in einem vegetarischen Restaurant, mitten in den Grässlichkeiten der Stadt, gleicht einer belebenden Liebkosung. Wie viele habe ich entstehen sehen! Ach, manche haben sich nicht halten können und wurden dahingerafft von der Unbarmherzigkeit ihrer Umgebung, vielleicht von der Verzagtheit ihrer eigenen Pioniere, ihrer Wegbereiter. Aber jetzt ist der Weg frei und fast schon eben.

Meist handelt es sich um Clubs, hinter denen Vereinigungen stehen und auch Ideen. Der Eurovegetarismus ist äußerst vielfältig, je nach Klima und lokalem Geschmack. Wer das nicht ausprobiert, weiß nicht, was die wahre Küche ist, denn oft nisten an diesen bescheidenen Orten kleine Köchinnen aus dem Paradiso Deliciano. Erlesene Gerichte! Süßspeichen, die nostalgisch machen, ohne das infame Schmalz, ohne Ströme von Glukose, ohne im Hinterhalt lauerndes Cholesterin. Fast immer zu Studentenpreisen und mit einer Bedienung, die einen nicht mit ihrer Langsamkeit zur Verzweiflung treibt; oder mit einer Selbstbedienungsbar, was eine ideale Form ist. Die Inhaltsstoffe sind »biologisch«, wenn auch nicht immer. Der Fluch der chemischen Behandlung von Lebensmitteln ist nicht so leicht auszutreiben.

Das Bestmögliche findet man, wenn in einem vegetarischen Restaurant die goldene Regel »Nicht rauchen!« herrscht. Vegetarisch essen inmitten von Rauchwolken ist so, als ob man an einer angebrannten Schnitte kaut. Es ist mir unbegreiflich, warum jemand sich bei Tisch eine Zigarette anzündet, außer bei geschäftlichen und politischen Arbeitsessen, wo ohnehin alles in Rauch aufgeht.

Unter den Jugendlichen tendieren viele zum Vegetarismus, und die Zahl derer, die ihn endgültig annehmen, wird immer größer. Wenn ich Arbeitsplätze zu vergeben hätte, würde ich diejenigen bevorzugen, die streng vegetarisch leben. Nicht aus ideologischer Verblendung oder aus Intoleranz gegenüber den konformistischen Allesfressern, (man muss schließlich, bei allem Misstrauen, mit den Omnivoren zusammenleben), sondern weil das eine gewisse Garantie bietet, dass sie nicht gewalttätig sind und moralische Stärke besitzen. Sie sind weniger vergiftet – und vielleicht haben sie sogar ein Herz… Weniger Verunreinigungen des Stoffwechsels, weniger Verhärtung des Herzens. Die Achtung vor dem Leben des Tieres ist ein starkes Kriterium, um Menschen zu beurteilen.

Es lohnt sich, über die noch immer aktuellen »Four stages of cruelty« von William Hogarth nachzudenken: Der Tierquäler endet als Frauenmörder und schließlich, nachdem er gehängt worden ist, auf dem Anatomietisch, zum Vergnügen der Ärzte, die ihn ausweiden. Doch schon die Gleichgültigkeit gegenüber den Massakern an Rindern und all den anderen Tieren, das Nicht-daran-denken, die Verdrängung der Realität des Schlachthofes, stellt ein bedenkliches Symptom moralischer Verstopfung dar. Den Betrieben, die sich über ihre künftigen Mitarbeiter zu informieren suchen, sie ausspionieren, würde ich empfehlen, sich (hinter dem Rücken der Gewerkschaft) vor allem danach zu erkundigen, was die jungen Menschen ihrer Wahl essen.

Das Essen ist enthüllend. Der Psychologe, der nicht nach den Eßgewohnheiten fragt, kann eigentlich nur Unsinn verzapfen. Ebenso der Arzt: Was nützt es, sich mit Blut- und Urinproben abzuplagen, wenn keine Anamnese aufgrund der Nahrung vorgenommen wird? Ich hatte das seltene Glück, auf intelligente Ärzte zu stoßen: Seit mindestens einem Vierteljahrhundert befürworten sie alle meine streng vegetarische Ernährung, keiner stellt sich dagegen. Ein bedeutsames Zeichen des inzwischen eingetretenen Fortschritts, den ich angedeutet habe. Der Onkologe sollte den Blick des Elefanten haben: Mit diesem Blick würde er die Gefahren des Omnivorimus erkennen und wie ein Elefant Warnschreie ausstoßen.

Zu glauben, dass jemand zum Vegetarier wird, ist eines der vielen Trugbilder des Logos, sprachlich wie logisch. Das mag so erscheinen, aber in Wirklichkeit kommen wir so zur Welt. Es ist nicht entscheidend, wann sich diese angeborenen Anlage, diese vorgegebene Eigenschaft, kundtut. Die Geburt hört nie auf, sich im Verlauf der zum Tod führenden Existenz zu manifestieren. Die Anzeichen könnte man sehen. Aber die Welt, so wie sie ist, wird durch aufgezwungene Verhaltensweisen organisiert, die darauf angelegt sind, uns allen die – mehr oder weniger ausgebreiteten – Flügel zu brechen und zu zermalmen, mit denen wir geboren werden. (Ein Verbrechen, mit dem verglichen die Freudsche Kastration ein Spaß ist.) Und so gelingt es einem Großteil dieser versteckten inneren Leuchtquellen nicht, das Dunkel des Lebens zu erhellen. Deshalb sind die unsichtbaren Hindernisse auf dem Weg des Vegetarismus größer als die sichtbaren.

Ohne Zweifel – im Bereich der drei großen monotheistischen Religionen, deren Herrschaft über die Seelen bis heute ungeheuer stark ist und die Verhaltensweisen bestimmt (und das heißt im ganzen Westen und einem großen Teil des Orients und Afrikas), stellt der Vegetarismus geradezu einen Schwertstreich der Häresie dar. Die Geschichte der Fleischenthaltung ist auch eine Geschichte von Menschenblut, das wegen Unbotmäßigkeit vergossen wurde. In den christlichen Familien strenger Observanz war der vegetarische Sohn niemals wohlgelitten: Früher oder später würde er tatsächlich vom Corpus Christi abfallen – denn der Tisch vereint und der Tisch trennt. So wie das Bett mehr ist als das Bett. Eine große und schreckliche Sache.

Der christliche Omnivorismsus ist Kind der Romanisierung der Kirche durch das kaiserliche Rom. Das Christentum, seinerseits ein Häresie vom Judentum (Paulus), beschritt den omnivoren Weg, um die Abkehr von den mosaischen Gesetzen und deren radikale Überwindung zu betonen. Zwar erlaubte das mosaische Gesetz leider auch den Fleischverzehr, aber es schränkte ihn durch vielerlei Verbote stark ein. (Heute züchtet man bei uns sogar schon Strauße, um sie zu schlachten. Straußenfleisch ist nach der Thora verboten.) Der christliche Omnivorismus hatte auch eine kriegerische und antiheidnische Funktion in den von ihm eroberten Gebieten: Das gnadenlose Gemetzel, das die Christen unter den Tieren anrichteten, zwang zum Rückzug von den gelegentlich noch üblichen Menschenopfern. Nach der Ankunft Wilhelms des Eroberers wurde der New Forest, der von Wildtieren dicht bevölkert war und in dem ab und zu noch rituelle Menschopferungen stattfanden, zum Jagdreservat erklärt, und kein Tier war mehr davor geschützt, bei den königlichen Gelagen als Speise zu dienen.

Die Häresien haben gekämpft und verloren. Aber sie sind nie ganz und gar untergegangen, denn in ihnen ist der Keim des Richtigen, ein unmerklicher Gärungsstoff. In den siegreichen Anschauungen, die alles vereinnahmen, ist der Verlust des Ganzen vorgezeichnet. Die Häresien haben das Unmögliche versucht: Die Welt wieder zu heiligen, die von den abrahamitischen Religionen, infolge ihres starren, unzugänglichen inneren Wesens, entheiligt worden ist. (Entheiligend wirkt auch der strenge Buddhismus wegen seiner übermäßigen Abstraktheit.) Das häretische manichäische Christentum, eine Welle, die von den westlichen Pyrenäen bis zum Chinesischen Meer vordrang, war Träger einer engelhaften Botschaft. Ein Unheil, dass sie zurückgewiesen wurde, abgestraft mit Scheiterhaufen und Blutbädern unter den Völkern. Der Vegetarismus war einer der Kardinalpunkte der häretischen Kirche. Deshalb ist er bis heute verdächtig, denn die Erinnerung an den großen Angriff lebt noch fort. Ich wiederhole: Der Tisch trennt, er trägt das Schwert in die Familien und in die Klöster. Dies alles liegt scheinbar weit zurück, aber, es hilft alles nichts – da schäumt es in unserer Gegenwart wieder hoch, Pólemos, unaustilgbar… Spricht man davon wie absurd es ist, dass die konsumistischen Mahlzeiten des christlichen Osterfests mit dem Blut von Lämmern besudelt werden, empören sich die Bischöfe. Da ist sie wieder, die verdammte Schlange der dualistischen Ketzerei, und beisst sie! Denn die kathartische Häresie ist Banquos Schatten für die abendländische Kirche: der Ermordete kehrt immer wieder zurück.

Zu viel Ordnung in Ideen bringen, sie nicht flexibel halten, heißt aufs Denken zu verzichten. Aber in manchen Punkten, besonders wenn es darum geht, daraus Handlungsanleitungen zu entwickeln, ist es notwendig, sie eindeutig zu klären und unverwässert zu erhalten. Deshalb baue ich gegenüber allen Kirchen, Offenbarungen, Bekenntnissen, Doktrinen, Sekten diese eine entscheidende Hürde auf: Akzeptiert ihr das Schlachthaus oder lehnt ihr es ab? Haltet ihr die Intensivzucht von Schlachttieren, die Techniken ihrer Mästung, die Züchtung von Versuchstieren, die medizinischen Experimente am lebenden Tier, die Akkordschlachtungen, die ganze auf dem Leiden und der Vernichtung von Tieren aufgebaute blühende Wirtschaft für erlaubt, für göttlich legitimiert? Haltet ihr das Zusammenleben mit dem öffentlichen Schlachthof für tragbar, das gleichzeitige Nebeneinanderbestehen eurer Gebete mit diesem Ort überhaupt für möglich – mit diesem Ort, an dem Tag für Tag endlose Reihen von Tieren in Angst und Entsetzen getrieben, abgeschlachtet und in blutige Stücke zerhackt werden?

Wenn eure Antwort »ja« lautet, wird mein Weg sich nicht mit dem euren treffen. »Gewogen und zu leicht befunden.« Sanft, aber nachdrücklich: nicht zusammen, nicht auf derselben Straße. Eure Mysterien mögen mich anziehen, aber da gibt es diesen Greuel, diese Schändlichkeit, zu deren Beendigung ihr nichts beitragt. Und so seid ihr nicht die Lenker, die aus der Finsternis der Welt hinausführen, die sie erlösen können.


Guido Ceronetti, italienischer Schriftsteller, Essayist und Kolumnist. Originalveröffentlichung in »La Stampa« (Turin) am 8. August 1997. Deutsch von Sina Walden.

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