Franz Marc: Tiere in der Landschaft, 1914
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Buchkritik: Bernd-Udo Rinas – (Art)gerecht ist nur die Freiheit

Geschichte, Theorie und Hintergründe der veganen Bewegung

»Was ist das potentiell Neue und eventuell Wegweisende am Veganismus?« »Welches theoretische und inhaltliche Potential bietet der Veganismus zur Beseitigung von Umweltzerstörungen?« Dies sind die Grundfragen, die sich Bernd-Udo Rinas bei seiner Untersuchung der veganen Bewegung stellt. 

Rinas möchte mit seiner Arbeit dreierlei erreichen:

»1. Eine bei eher (aber nicht nur) Jugendlichen verbreitete Einstellungs-, Verhaltens- und Ernährungsweise aufzeigen und sie analysieren;
2. Den historischen Kontext verdeutlichen, auf den (punktuell) die vegane Bewegung zurückgreift;
3. Den theoretischen Rahmen aufzeigen, der helfen soll, eine als von Zerstörung bedroht angesehene Welt zu retten.«

Hierzu untersucht Rinas zuerst die »historische Entwicklung des Vegetarismus / Veganismus«. Bei der Betrachtung der verschiedenen Religionen stellt Rinas fest, dass es zwar »in allen großen Weltreligionen noch heute Vorschriften und Gebote in Bezug auf die Ernährung gibt. Sie sind jedoch nicht als grundsätzliche Verbote anzusehen, da selbst der Hinduismus Ausnahmen ermöglicht und sich durch gesellschaftliche Veränderungen auch eine religiöse Veränderung einstellt.«

Bei der Entwicklung im philosophischen Bereich trennt Rinas die zeitlichen Spannen der Antike, der Aufklärung und der Neuzeit. Besonders ausführlich werden hierbei die Positionen von Schopenhauer, Bentham und Nelson dargestellt. Letzteren hebt Rinas für den Veganismus als bedeutend hervor:
»Er (…) zeigt durch sein pädagogisches und politisches Engagement, daß die Haltung Tieren gegenüber, [sic] kein Seitenstrang einer Ethik sein darf, sondern als Folge einer Grundhaltung zu sehen ist. In diesem Sinne ist Leonhard (korrekt wäre allerdings »Leonard«; T. U.) Nelson ein wichtiger Philosoph für die vegane Bewegung und sollte von ihr stärker bedacht werden.«

Aus diesen philosophischen Gedanken entwickelten sich unterstützt von der gegenwärtigen ökologischen Krise drei nicht-anthropozentrische Ethikansätze: der Pathozentrismus, der Biozentrismus und der Holismus. Während der Pathozentrismus (z. B. Peter Singer) das Empfindungsvermögen zum entscheidenden Kriterium auszeichnet, nimmt der Biozentrismus (z. B. Albert Schweitzer) alles Lebende in die Moral auf. Der Holismus (z. B. Arne Naess) berücksichtigt die Natur als Ganzes, also auch das unbelebte Umfeld.
Alle drei Richtungen haben für Rinas den Anthropozentrismus überwunden.

Die verschiedenen Richtungen des Veganismus differenziert Rinas in Tierschutz-, Tierrechts- und Erdbefreiungsbewegung aus.

Bei den theoretischen Grundlagen der veganen Bewegung setzt sich Rinas ausführlich mit dem sog. »Triple-Oppression-Ansatz« der radikalen Linken auseinander. Dieser Ansatz soll die Gleichwertigkeit der Unterdrückungsverhältnisse Kapitalismus, Rassismus und Sexismus aufzeigen.
Aus der Kritik dieses Ansatzes entstand innerhalb der Linken 1995 der sog. »Unity-of-Oppression-Ansatz«, welcher die Tiere, aber auch andere Unterdrückungsverhältnisse (wie z. B. »Ageismus« oder »Bodyismus«), miteinbezieht.

Für Rinas ergibt sich somit die Forderung, dass sich »TierrechtlerInnen (…) ebenfalls mit anderen Unterdrückungsformen auseinandersetzen und ihren politischen Schwerpunkt (Tierrechte) mit den anderen Punkten verbinden.«

Weiterhin befasst sich Rinas mit der Kritik am Veganismus, vor allem mit der Kritik aus der Linken am Unterdrückungsbegriff des »Speziesismus«.

In seiner abschließenden Betrachtung stellt Rinas fest, dass sich der Veganismus zwischen dem holistischen und dem pathozentrischen Ansatz bewegt und sich durch den politischen Ansatz weiterentwickelt hat: »In dieser Erweiterung auf den Unity-of-Oppression-Ansatz liegt das theoretische Potential des Veganismus, mit dem versucht wird, kraftvoll in die Auseinandersetzung um die Respektierung von Eigenwerten der Natur einzugreifen.«

Kritik

»Geschichte, Theorie und Hintergründe der veganen Bewegung« lautet der Untertitel der Arbeit. Leider wird aber nie so richtig geklärt, was eigentlich die »vegane Bewegung« auszeichnet. Steht »Veganismus« für eine strenge Ernährungsform? Für eine politische Einstellung? Für einen Überbegriff für alle nicht-anthropozentrische Ethikansätze?

Rinas selbst scheint sich dieser Problematik nicht bewusst zu sein und springt regelmäßig zwischen den verschiedenen Bedeutungen. Der Begriff »Veganismus« wirkt dadurch in seiner Bedeutung überladen und verwischt wichtige Differenzierungen.

So kann beispielsweise ein gesundheitlich motivierter, von der Ernährungsform absolut vegan lebender Mensch mit Tierrechten überhaupt nichts zu tun haben, während sich eine aktive Tierrechtlerin beim Besuch der Oma auf dem Land vielleicht mal beim Kuchenessen nicht so »konsequent« verhält. Wer ist jetzt hier »vegan« oder »veganer«?
Es ergeben sich offensichtlich Abgrenzungsschwierigkeiten mit dem doppel- oder dreifachdeutigen Begriff »Veganismus«.

Sehr interessante Aspekte enthält der Bereich der historischen Entwicklung des Veganismus. So nimmt Rinas die Weltreligionen ausführlich unter die Lupe und auch die Philosophen bis zur Neuzeit (aber leider auch nur bis dahin) werden gut dargestellt. Besonders die Hervorhebung des Ansatzes von Leonard Nelson fällt angenehm auf.

Beim politiktheoretischen Ansatz des Veganismus bezieht sich Rinas vor allem auf den »Unity-of-Oppression-Ansatz«, versteht diesen als eigenständige Entwicklung der veganen Bewegung. Inwieweit sich dieser Ansatz mit seinen unzähligen »ismen« im Grunde von Singers Prinzip der gleichen Interessensberücksichtigung unterscheidet, bleibt aber eine offene Frage.

Merkwürdig auch und nur schlecht nachvollziehbar, dass drei Seiten reichen, um die Tierrechtsbewegung zu beschreiben, während neun Seiten benötigt werden, um die »Erdbefreiungsbewegung« zu charakterisieren. Richtig ärgerlich ist dieser Umstand dann, wenn die Seiten gebraucht werden, um »Ratschläge« von offensichtlich pubertierenden, vor Biologismus strotzenden Jugendlichen (Zeitschrift: »Instinkt«) ernsthaft zu kommentieren.

Auf der anderen Seite fehlt dann natürlich der Platz, verschiedene relevante Tierrechtsansätze angemessen darzustellen. Die kurze Beschreibung des Ansatzes von Tom Regan gerät geradezu abenteuerlich und hat mit der Theorie von Regan eigentlich gar nichts mehr zu tun. Dies ist vor allem deswegen schade, da Rinas offensichtlich utilitaristischen Theorien sehr kritisch gegenübersteht. Mit Regans Tierrechtskonzept wäre es möglich gewesen, die wichtigste Alternative aufzuzeigen.

Es fällt öfters auf, dass Rinas ein bisschen leichtfertig mit Begriffen umgeht. So wird zum Beispiel das Interesse des Tieres, nicht zu leiden, manchmal mit dem Überlebensinteresse verwechselt oder synonym verwendet.

Insgesamt betrachtet bleibt Rinas auf dem vorherrschenden Niveau fast sämtlicher Texte aus dem linken Kontext, bei denen ein gewisses Muster auffällt, d. h. gewisse Dogmen konsequent durchgezogen werden. Ein paar seien hier exemplarisch genannt:

Kritisiere vor allem Peter Singer. Stelle seine Position zur Euthanasie möglichst kurz und verzerrt mit Hilfe weniger Zitate dar. Distanziere dich scharf von seiner Einstellung, auch wenn du selbst einen pathozentrischen Ansatz oder das Prinzip der gleichen Interessensberücksichtigung vertrittst.
Das Wort »Wert« und auch alle abgeleiteten Wörter hiervon (z. B. Wertung) sollten möglichst nicht verwendet werden, schon gar nicht um menschliches oder tierliches Leben in irgendeiner Form zu bewerten.
Abtreibung ist völlig okay und bedarf keiner Rechtfertigung (mögliche Zusatzbemerkung: … zumindest solange das Patriarchat herrscht).
Euthanasie ist immer und in allen möglichen Fällen falsch und gehört zu einer rechten oder rechtsradikalen Einstellung.
Ignoriere offensichtliche Fragen nach Lösungsansätzen in Interessenskonflikten.
Entscheide Dich nicht ausdrücklich für einen ethischen Theorie-Ansatz mitsamt seinen logischen Schlussfolgerungen, sondern gehe umgekehrt den Weg von den Schlussfolgerungen zu den passenden Theorien.
Fragen nach dem Lebensrecht und hierfür möglicherweise ethisch relevante Eigenschaften und Fähigkeiten der Lebewesen sind völlig zu meiden.
Alle diese »Empfehlungen« scheinen irgendwo und irgendwann in einem unbekannten »No-Hierachy«-Lexikon festgeschrieben worden zu sein.
Dass dies nicht zu hinterfragende Dogmen sind, liegt vielleicht daran, dass sie zusammen betrachtet inkohärenzverdächtig sind, d. h. Widersprüche innerhalb dieser Punkte bei einer näheren Untersuchung möglich scheinen.

Doch wo diskutieren nicht erwünscht ist, werden auch keine Widersprüche aufgedeckt.
Befriedigend ist dieser Zustand natürlich nicht. Es steht zu fragen, warum sich linke Tierrechtlerinnen so verhalten.

Fazit

Schade. Die Grundidee dieser Arbeit war sicher gut, und Bernd-Udo Rinas hat sie auch engagiert bearbeitet. Es ist trotzdem einfach nicht zufriedenstellend, wenn den wirklich heiklen Fragen, welche der Veganismus nun mal mit sich bringt, nicht auf den Grund gegangen wird oder diese regelrecht ignoriert werden.

Bernd-Udo Rinas
(Art)gerecht ist nur die Freiheit
Geschichte, Theorie und Hintergründe der veganen Bewegung
Broschiert, 147 Seiten
Focus Verlag, Gießen, 2000
Preis: 13 Euro
ISBN 3-88349-486-0
(Leider nicht im Online-Buchhandel verfügbar. Sie können das Buch bei buchhandel.de bestellen oder Ihre lokale Buchhandlung um eine Direktbestellung bitten.)

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