Andreas Flury untersucht in seiner Dissertation moralphilosophische Axiologien im Umfeld der zeitgenössischen Tierrechtsdebatte. Die Konzepte von Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan werden referiert und einer kritischen Würdigung unterzogen. Anschließend legt der Autor in seinem eigenen Entwurf dar, welche Eigenschaften einem Lebewesen das Recht auf moralische Berücksichtigung verleihen.
Was steht drin?
Zu Beginn zeigt Flury das »Ungenügen der traditionellen Axiologie« auf. Hierfür untersucht er die beiden Hauptstützen der »Doktrin der Menschlichen Würde« und stellt ihren groben Mangel dar: »Die traditionelle Axiologie … leidet unter der immanenten Schwäche, daß ihre eine Hauptstütze, die »Vernunft-These« strenggenommen nicht für alle Menschen gültig ist, während die andere, die »These der Gottesebenbildlichkeit«, nur innerhalb der jüdisch-christlichen Religion überzeugen kann.«
Dieser Mangel wirft für Flury die Frage auf, weshalb die Evolutionstheorie eine so schwache Resonanz in der Moralphilosophie erhält.
Zwei Erklärungen stellt Flury ausführlich dar:
Die unheilvolle Wirkungsgeschichte der Evolutionstheorie durch die Übertragung der Selektionstheorie Darwins auf den Gesellschafts- und Sozialprozeß, welche den Holocaust mitverursachte.
Dieser Umstand verdeutlicht, wieso die ethischen Implikationen der Evolutionstheorie heute fast einhellig abgelehnt werden: »Der Versuch, Darwins Theorie und ihre Implikationen für die Ethik fruchtbar zu machen, stand fortan im Ruch, eine im Kern zutiefst inhumane Theorie wieder politisch umsetzen zu wollen.«
Die Formulierung des »naturalistischen Fehlschlusses« anfangs des 20. Jahrhunderts durch George Edward Moore, welcher sämtliche Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Theorien für die normative Ethik grundsätzlich in Frage stellte.
Nachdem Flury nachgewiesen hat, wieso die traditionelle Axiologie keine Geltung mehr beanspruchen kann, stellt er drei gewichtige Entwürfe einer neuen Axiologie dar, die Werke von Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan.
Seine Auswahl begründet Flury folgendermaßen: Henry Salt darf als Vorläufer der zeitgenössischen Diskussion angesehen werden (sein Hauptwerk »Animals‘ rights« erschien 1892). Zudem bestimmen viele seiner Argumente noch heute die Diskussion. Singers »Animal Liberation« verdient alleine schon wegen seiner Wirkungsgeschichte eine nähere Betrachtung. Zudem steht seine Axiologie in der ethischen Theorienfamilie des Konsequenzialismus. Regans Buch »The Case for animal rights« fällt durch sein hohes argumentationsstrategisches Niveau auf, außerdem wurde es auf der Basis der zweiten großen Theorienfamilie – der deontologischen – entwickelt.
Die Entwürfe werden von Flury ausführlich referiert und einer kritischen Würdigung unterzogen. Flury zeigt einige Mängel und Inkonsequenzen der verschiedenen ethischen Ontologien auf, zugleich werden aber auch ihre wertvollen substantiellen Elemente festgehalten.
Eine bedeutende Eigenschaft teilen für Flury jedoch alle Konzeptionen der Tierethiker gleichermaßen. Sie argumentieren nämlich auf der Basis spezifischer Ethikkonzeptionen: »Wer den spiritualistischen Ansatz Salts nicht als stichhaltig empfindet, das Bekenntnis zum Präferenz-Utilitarismus Singers nicht teilt oder die Geltung der von Regan entwickelten Version einer deontologischen Ethik als fragwürdig empfindet, wird ihre alternativen Wertordnungen und damit auch die aus ihnen resultierenden Folgerungen verwerfen.«
Andererseits zeigt für Flury gerade die Tatsache, dass die drei Denker auf einer völlig unterschiedlichen Basis zu fast identischen praktischen Folgerungen gelangen, dass es einen gemeinsamen Kern geben muss, der nicht dadurch hinfällig wird, dass er in einem deontologischen bzw. utilitaristischen Kontext formuliert wird.
Diese Konstellation, nämlich die Notwendigkeit eines radikalen Perspektivenwechsels in der Ethik auf der einen Seite, die Uneinigkeit über die allgemein anerkannte ethische Theorie unter den Menschen auf der anderen Seite, nimmt Flury zum Anlass für die Ausarbeitung seiner Axiologie. Er entwickelt seine Argumentationsführung bewusst auf möglichst schwachen und daher konsensfähigen Prämissen. Durch die Verwendung von sogenannten Platzhalter-Definitionen, welche variabel hinsichtlich unterschiedlicher Theorien sind, lässt sich seine Axiologie in jede plausible Ethikkonzeption »übersetzen«.
Als entscheidende Kriterien, welche eine Entität erfüllen muss, um direkte moralische Berücksichtigung zu verdienen, gelten für Flury »Beeinflussbarkeit«, »Gewahrwerdung« und »Bewertung«. Diese Kriterien werden ausführlich erläutert und die Schlüssigkeit durch das sogenannte »Inkrement-Argument« gestützt. Flury kann so zwei Werte, von denen der zweite um ein Inkrement (mathematischer Begriff für »Zuwachs«) reicher ist als der erste, in einer Funktion vergleichen.
Diese Axiologie bietet für Flury erhebliche Vorteile:
Eine axiologische Einebnung der verschiedenartigen Lebewesen wird durch das Inkrement-Argument im Gegensatz zu Regans Theorie verhindert. Andererseits können auch die Interessen verschiedenartiger Lebewesen in der Ethik unterschiedlich gewichtet werden. Dieser zweite Punkt wirft bei der Theorie Singers Probleme auf.
Flury geht bewusst nicht der Frage nach, welche Tierarten die einzelnen Eigenschaften aufweisen. Zum einen hält er die Erkenntnisse in diesem Gebiet mittlerweile für zu vielfältig und komplex, um sie ausreichend zu beurteilen, zum anderen ist zu erwarten, daß sich unsere Kenntnisse bezüglich der Fähigkeiten in naher Zukunft noch erheblich erweitern. So möchte er die Bestimmung, welche Tiere die moralisch relevanten Fähigkeiten aufweisen, den Fachleuten überlassen.
Hingegen ist es für Flury »eine genuine Aufgabe der Moralphilosophie, die moralisch relevanten Eigenschaften zu identifizieren.«
Kritik
Der »negative« Aspekt gleich vorweg: Das Buch ist nur bedingt für »Einsteiger« geeignet. Meiner Ansicht nach wird dieses Buch gerade für Leute spannend zu lesen sein, welche sich schon länger mit philosophischen Entwürfen in der Tierrechtsdiskussion befassen, aber in verschiedenen Aspekten noch keine befriedigenden Argumente finden konnten.
Das Buch dient in mancher Sicht einem Blick »hinter die Kulissen«. So wird in vielen Tierrechtsbüchern die anthropozentrische Sicht in der Moralphilosophie immer wieder kritisiert. Flury stellt hingegen ausführlich dar, aus welchen Gründen die Evolutionstheorie in der Moralphilosophie oftmals nicht vorzukommen scheint. Vielen ist das »Totschlagargument« von den Gefahren des »Sozialdarwinismus« bekannt, sobald mit Hilfe der Evolutionstheorie für Tierrechte argumentiert wird. Welches Tabu sich dahinter verbirgt, wieviel oder wie wenig Berechtigung dieses hat, wird nüchtern und klar analysiert.
Sehr gewissenhaft setzt sich Flury mit den verschiedenen Positionen der Tierethiker auseinander. Die Beschreibung von Salt’s »Animals‘ Rights« kann als interessanter historischer Exkurs gewertet werden. Erstaunlich, welche Gedanken schon vor über 100 Jahren zu Papier gebracht wurden und viele Jahre in den Bibliotheken verstaubten.
Besonders aufschlussreich ist die Betrachtung von Singers »Animal Liberation«. Einige Inkonsequenzen in Singers Konzept werden ersichtlich, insbesondere die Tötungfrage scheint für Flury kritikwürdig. Singer hält bekanntlich Nichtpersonen unter gewissen Umständen für »ersetzbar«, d. h. die Tötung einer Nichtperson ist kein Unrecht, wenn ein anderes (vergleichbares) Wesen hierdurch zur Existenz verholfen wird. Diese Ansicht hat weitreichende Konsequenzen für die Themen Abtreibung, Tötung nichtpersonaler Lebewesen und Euthanasie, und gerade deswegen ist ja Singer in Deutschland zur »unerwünschten« Person erklärt worden. Konstruktive Kritik mit genuinen ethischen Argumenten gegen diese Position Singers waren aber unter den Singer-Gegnern nur schwer zu finden (Vielleicht wollte man auch deshalb nicht diskutieren?).
Flury führt dagegen eine bemerkenswerte Kritik an dieser Position Singers aus und legt plausibel dar, weshalb es natürlich ein »direktes« Unrecht (also ein Unrecht für die betroffene Entität) ist, ein »nur« empfindungsfähiges Wesen zu töten, wenn auch ein nicht so gravierendes wie die Tötung einer Person. Diese weitverbreitete Intuition wird von Flury mit schlüssigen Argumenten verteidigt.
Bei Regans »The Case for animal rights« (welches übrigens als deutsche Ausgabe voraussichtlich im Herbst 2001 im Harald-Fischer-Verlag erscheint) kritisiert Flury vor allem die wenigen Kategorien, in welche die verschiedenen Entitäten zugeordnet werden. Angesichts der Vielfalt der Eigenschaften natürlicher Wesen erscheint dies für Flury unplausibel. Außerdem werden empfindungsfähige Lebewesen, welche das »Subjekt-eines-Lebens-Kriterium« nicht erreichen, überhaupt nicht moralisch berücksichtigt. Diese Mängel in Regans Theorie entstehen durch die Postulierung eines inhärenten Wertes für Lebewesen, welche das »Subjekt-eines-Lebens-Kriterium« erfüllen. Flury stellt aber auch klar heraus, weshalb Regan diesen Schritt wagt. Regan möchte nämlich die Anfälligkeiten des von Singer favorisierten Utilitarismus für Ungerechtigkeiten vermeiden und setzt deshalb auf eine deontologische Theorie. Diese interessanten Zusammenhänge werden von Flury eindrucksvoll aufgezeigt.
Flury versucht in seiner Axiologie, die aufgezeigten unterschiedlichen Schwächen der untersuchten Theorien zu vermeiden. Er gibt selbst zu, dass der Preis für seine konsensfähigen Prämissen der ist, dass es nicht möglich ist, konkrete moralische Urteile über bestimmte moralische Probleme abzugeben. Ich stimme aber mit Flury überein, dass der Gewinn seiner Axiologie bedeutend höher einzustufen ist. Er legt schlüssig den Nachweis dar, weshalb Entitäten, welche die genannten Kriterien erfüllen, in allen plausiblen ethischen Theorien direkte moralische Berücksichtigung verdienen.
Einmal mehr wird durch Flurys Axiologie deutlich, wie unabdingbar die Einbeziehung der Tiere in die Ethik ist. Als kleiner Wermutstropfen muss die Tatsache gesehen werden, wie kompliziert sich die »neue Ethik« aber im alltäglichen Leben umsetzen lässt. Befriedigende Lösungen für »alle« moralisch relevanten Lebewesen werden in vielen praktischen Situationen schwer zu finden sein.
Fazit
Trotz des recht hohen Preises (es handelt sich um ein Fachbuch in der Alber-Reihe »Praktische Philosophie«) für alle Tierrechtstheoretiker (und alle, die es werden wollen) ein »Muss«. Flurys Arbeit könnte zu einem Standardwerk in der deutschen Fachdiskussion avancieren.
Thorsten Ullrich
Andreas Flury
Der moralische Status der Tiere.
Henry Salt, Peter Singer und Tom Regan.
Gebundene Ausgabe – 316 Seiten
Karl Alber Verlag, Freiburg
Preis: 38 Euro
ISBN 3-495-47879-5
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