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Buchkritik: Helena Röcklinsberg – Das seufzende Schwein

Zur Theorie und Praxis in deutschen Modellen zur Tierethik

»Was will und kann die deutschsprachige philosophische und theologische Tierethik leisten?« Dieser Frage geht Helena Röcklinsberg in ihrer Dissertation nach und richtet den Blick dabei insbesondere auf die Auswirkungen der verschiedenen tierethischen Modelle auf die Praxis der Schweinehaltung.

Inhalt

Die philosophische Debatte über den moralischen Status der Tiere ist geprägt von bekannten angelsächsischen Modellen, insbesondere von Singers Präferenz-Utilitarismus.
Die oft nüchtern und tabufrei geführte Diskussion erfährt aber speziell in deutschsprachigen Ländern eher Ablehnung. Diese auffällige Distanz zu utilitaristischen Konzepten erklärt sich für Röcklinsberg auch geschichtlich: »Die Erfahrungen im Dritten Reich haben in Deutschland zu einem hohen Grad an Sensibilisierung hinsichtlich der Respektlosigkeit gegenüber Menschenleben geführt.«

Andererseits haben aber gerade diese Konzepte überhaupt erst eine Debatte über den moralischen Status der Tiere entfacht. Für Helena Röcklinsberg stellt sich daher die Frage, ob die Voraussetzung für eine stringente Tierethik notwendigerweise mit einer Abkehr von dem in unserer Gesellschaft vertretenen Menschenbild verbunden ist.
Sie möchte sich »der deutschsprachigen Tierethik widmen, um zu sehen, wie deutschsprachige Tierethiker und Tierethikerinnen die Gratwanderung zwischen der Veränderung der Tierbehandlung und der Wahrung des Respekts vor dem Menschenleben meistern.«

Die Auswahl der Konzepte bestimmt Röcklinsberg nach den Parametern »Zentrumposition« und »Argumentationstradition«. »Zentrumpositionen« lassen sich durch die Reichweite des direkten moralischen Status von Lebewesen ordnen (anthropozentrisch bis ökozentrisch). Dieses Spektrum wird von den ausgewählten Konzepten vollständig abgedeckt. Die Argumentationsweisen sind philosophisch und theologisch.

Vorgestellt werden die theologisch-anthropozentrische Tierethik von Michael Schlitt, die theologisch-pathozentrische von Erich Gräßer, die philosophisch-pathozentrische von Ursula Wolf , die theologisch-biozentrische von Günter Altner und die philosophisch-ökozentrische von Klaus-Michael Meyer-Abich.

Damit ein anschaulicher Vergleich der Modelle möglich wird, analysiert Röcklinsberg diese anhand der Schlüsselbegriffe »Menschenbild«, »Tierbild«, »normative ethische Theorie«, »Wert«, »Würde« und »Ethologie«.

Die Ethologie nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da die Praxis der Schweinebehandlung einen Schwerpunkt der Arbeit bildet.

Nach einer sehr ausführlichen Darstellung zeigt Röcklinsberg in einer kritischen Diskussion mögliche Schwachpunkte der Modelle auf, möchte aber auch ihre überzeugenden Elemente festhalten. Die Skizzierung einer theozentrischen Tierethik hat für Röcklinsberg den Vorteil, dass unterschiedliche plausible Aspekte der Modelle in die ethisch richtige Handlung mit einfließen, denn »jede Einschränkung der moralisch relevanten Faktoren birgt das Risiko in sich, der Mannigfaltigkeit des Werkes Gottes gegenüber ungerecht zu werden.«

Aus diesem Grund richtet Röcklinsberg ihre Position nach drei Schwerpunkten aus:
Die erste Kategorie richtet sich nach den Interessen des moralischen Objekts, z. B. »Rücksicht auf körperliche Fähigkeiten und Bedürfnisse wie Empfindungsfähigkeit, Schmerzempfindungsfähigkeit, Leidensfähigkeit und grundlegende lebenserhaltende Bedürfnisse.«
Bei der zweiten Kategorie geht es um physisch nicht fassbare Faktoren. Diese werden mit Begriffen wie »Eigenwert«, »Würde«, »moralischer Status« oder »Erschaffensein« bzw. »Geschöpfsein« beschrieben.
Die Gesinnung der moralischen Subjekte steht bei der dritten Kategorie im Vordergrund: »Dies meint zum einen Fähigkeiten, Eigenschaften oder Charaktere der Akteure und zum anderen ihre Ideale und Maximen bezüglich des Hintergrunds und die wünschenswerten übergreifenden Ergebnisse einer Handlung.

Nach einer ausführlichen Erörterung des Konzepts fasst sie die wichtigsten Punkte wie folgt zusammen:
»Menschen dürfen Tiere nur dann halten, wenn sie ihnen ein artgerechtes Leben bieten, und die Tiere nur dann töten – und zwar möglichst schonend und ohne vorhergehende Transporte – , wenn sie entweder sterbenskrank sind oder ihr biologisches Sterbealter erreicht haben. Dann hätte das Seufzen der Schweine ein Ende.«

Kritik

Ein erfreuliches Phänomen gewinnt durch diese Arbeit weiter an Kontur. Die Tierethik breitet sich als ernsthaftes wissenschaftliches Forschungsgebiet aus.

Die akribische Genauigkeit, mit der in dieser Arbeit auch wenig bekannte Positionen durchleuchtet werden, ist wirklich verblüffend.
Von der notwendigen wissenschaftlichen Trockenheit (allein über 900 Fußnoten!) kann man sich aber anfangs etwas abschrecken lassen. Durch die Zergliederung der Modelle in ihre Bedeutung in bezug auf die genannten »Schlüsselwörter« verliert die Darstellung der Konzepte etwas an Übersicht und Lesbarkeit. Hier wird von den Lesern durchaus Durchhaltevermögen verlangt.

Wer dieses aber besitzt, wird beim anschließenden Vergleich und der kritischen Diskussion belohnt. Der Vorteil der Methodik wird durch die verbesserte Vergleichbarkeit der Modelle sichtbar und Röcklinsberg kann in ihrer kritischen Würdigung durchaus überzeugen.

Diese Überzeugungskraft lässt aber (zumindest für Nicht-Gläubige) exakt bei der Entwicklung ihrer eigenen theozentrischen Position stark nach.

Röcklinsberg ist sich natürlich der Problematik einer glaubensabhängigen Tierethik bewusst, verteidigt aber ihren Ansatz, indem sie knapp behauptet, »daß sich keine Ethik ganz unabhängig von einer grundlegenden Lebensanschauung entfalten läßt.«

Der Unterschied liegt für Röcklinsberg nur darin, dass die Lebensanschauung »in den theologischen tierethischen Modellen ziemlich explizit zum Ausdruck kommt, wohingegen es in den philosophischen Modellen wahrscheinlich nur implizit aufscheint.«

Um diese Behauptung zu falsifizieren, reicht ein Blick auf die ihrer Konzeption vorangestellten Prämissen:
»Grundlegend für eine theozentrische Position, wie sie im folgenden verstanden und formuliert wird, ist erstens der Glaube an einen Gott, der seine Schöpfung mit Liebe umfaßt, zweitens die Perspektive, daß dieser Gott das Zentrum des Lebens des glaubenden Menschen ist, und drittens die Auffassung, daß es keinen Grund dafür gibt, die Sphäre der moralisch relevanten Entitäten auf weniger als die Glieder von Gottes Schöpfung einzuschränken.«

Um es vorsichtig auszudrücken: Diese Prämissen sind extrem voraussetzungsabhängig (Gott existiert; Gott umfasst seine Schöpfung mit Liebe; Gott ist das Zentrum des glaubenden Menschen, usw.) und nicht vergleichbar mit anderen plausiblen Positionen, die mit weit schwächeren Prämissen auskommen.

Noch kritischer muss aber die (vorhersehbare) Problematik gesehen werden, dass ihr theologischer Ansatz eine klassische Doppelstandardtheorie ist, also Menschen und andere Tiere kategorial trennt und dadurch den größten Fehler begeht, den eine Tierethik begehen kann: Ihre Konzeption ist speziesistisch.

Dabei gibt Röcklinsberg erstaunlicherweise zu, wie unfair eigentlich diese Trennung ist, denn es »kann bei der Beschreibung eines spezifisch menschlichen Merkmals letztendlich nur auf die einfache Tatsache zurückgegriffen werden, daß Menschen von Menschen gezeugt und geboren werden.«

Respekt vor den Religionen gut und schön, aber speziesistische Religionen ernsthaft zu betrachen, erfordert vielleicht zuviel Toleranz. Wer würde ernsthaft über die Attraktivität von rassistischen religiösen Ansätzen nachdenken wollen?

Diesem Vorwurf weicht Röcklinsberg bewusst oder unbewusst durch den seltsamen Umstand aus, dass der Begriff des Speziesismus geradezu gemieden wird. Das speziesistische Denken zieht sich aber immer wieder durch die Arbeit (so z. B. durch die Schlüsselwörter »Menschenbild« und »Tierbild«, was ja in sich schon ein speziesistisches Element beinhaltet).

Inwieweit ihre praktischen Schlussfolgerungen, zu denen Röcklinsberg gelangt (z. B. theoretisch möglicher begrenzter Fleischverzehr) für die Tierrechtsbewegung akzeptabel sind, läuft durch diesen Standardfehler »außer Konkurrenz«, denn wenn die Prämissen schon speziesistisch sind, ist der Kampf um die attraktivste Tierethik schon vor der ersten Schlacht verloren.

Ein letztes Fragezeichen bleibt noch: Als Alternative zur utilitaristischen Tierethik ist ja Regans Ansatz entstanden. Dieser hätte eigentlich auf Röcklinsberg großen Eindruck machen müssen. In der Arbeit wird Regan aber nur nebenbei erwähnt und dazu noch fälschlicherweise als Pathozentriker bezeichnet.
Vielleicht sollte die Konzentration auf die deutschsprachigen Modelle nicht verwässert werden, anders lässt sich diese Merkwürdigkeit nicht erklären.

Fazit

Sicherlich eine relevante Arbeit für theologisch interessierte Menschen.
Allen anderen wird es wohl schwerer fallen, der Arbeit durchgehend die volle Konzentration zu schenken.
Die Anerkennung des Verdienstes von Röcklinsberg, fünf deutschsprachige Modelle zur Tierethik ausführlich und kritisch vorzustellen, bleibt davon unberührt.

Thorsten Ullrich

Helena Röcklinsberg
Das seufzende Schwein
Zur Theorie und Praxis in deutschen Modellen zur Tierethik
Taschenbuch – 451 Seiten
Harald Fischer Verlag, 2001
Preis: 36 Euro
ISBN 3-89131-405-1

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