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Buchkritik: Schande von J.M. Coetzee

David Lurie, Professor für Literatur in Kapstadt, verliert wegen einer Affäre mit einer Studentin seine Stellung und zieht sich weitgehend aus seiner Umwelt zurück. Es bleibt ihm seine Tochter Lucy, die eine kleine, abgelegene Farm mit angeschlossener Hundepension betreibt.  Lurie versucht zaghaft, sich in das Leben von Lucy und die im rapidem Wandel begriffene südafrikanische Gesellschaft einzufinden. Doch an einem Nachmittag kommt der letzte, entscheidende Schlag: Vater und Tochter, und die Hunde, werden Opfer einer brutalen, ihr Leben grundlegend verändernden Gewaltorgie.
Coetzees Roman bewegt sich auf vielen Ebenen, auf der allgemeinsten erzählt er vom fortschreitenden Macht- und Orientierungsverlust der weißen Südafrikaner. Es geht jedoch auch um einen Poeten mit hang zur Romantik, der in einer kommerzialisierten Welt den Anschluss verliert. Es geht um die Schuld, die Weiße im vergangenen Jahrhundert auf sich geladen haben und deren Bewusstsein lucy zur fast vollständigen Erniedrigung und einem mit nur wenig Hoffnungen verbundenen Neubeginn von unterster gesellschaftlicher Stufe motiviert: »ohne Kreditkarten, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde. wie ein Hund.«
In »Schande« kommt dem Verhältnis zwischen Menschen und Tieren eine tragende Bedeutung zu. Das beginnt mit der zaghaften Sorge des bisher desinteressierten Professors um zwei zur Schlachtung vorgesehene Ziegen, denen er ein wenig ihr Schicksal erleichtert und deren Freikauf vom Tod durchs Messer er erwägt, aber doch noch nicht realisieren kann. Immer mehr entdeckt Lurie jedoch bei seinen bewegend geschilderten Hilfeleistungen in einem Tierheim, dass er auch nach dem völligen abgleiten aus renommierter Stellung auf eine der untersten gesellschaftlichen Ebene zu Liebe und fürsorglichem Mitgefühl gegenüber anderen Lebewesen fähig ist. Diese Liebe steht in Kontext der Einschläferung von »überzähligen« Hunden im heruntergekommenen und überfüllten Tierasyl, der Begleitung der Tiere während der Gnadenfrist und den letzten Sekunden ihres Lebens und schließlich der Sorge um eine »würdevolle« Einäscherung (ohne die sonst üblichen Knochenbrüche), und hier liegt wieder eine parallele zur schwierigen Lebenssituation und tiefen Verunsicherung der Personen in Coetzees Roman.
Für dieses Buch erhielt J.M. Coetzee als bislang einziger Autor zum zweiten Mal den höchst renommierten Booker Literaturpreis – zu Recht, falls dem Rezensenten diese Bewertung erlaubt ist.

Matthias Boller

J.M. Coetzee
Das Leben der Tiere
Taschenbuch – ca. 284 Seiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2001
Preis: 9,90 Euro
ISBN 3596150981

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