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Buchkritik: Helmut F. Kaplan: Wozu Ethik?  Über Sinn und Unsinn moralischen Denkens und Handelns

Helmut F. Kaplan bearbeitet das weite Feld der Ethik auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wo verläuft die Grenze liegt zwischen überflüssigem Theoretisieren und notwendigem Nachdenken?

Inhalt

»Was machen Ethiker, während Wirtschaft, Wissenschaft und Kirche die letzten Vorbereitungen für den nuklearen, ökologischen und Überbevölkerungs-Selbstmord treffen? – Sie produzieren Theorien! Theorien, die kein Mensch zur Kenntnis nimmt, geschweige denn versteht. Wozu also Ethik?
Und wenn wir uns die drängenden Probleme der Gegenwart bewußt machen: Weiß da nicht ohnehin jeder, der bei Verstand und guten Willens ist, was zu tun wäre? Wozu also noch Ethik?«

Wie schon diese einleitenden Sätze deutlich machen, rechnet Kaplan in »Wozu Ethik?« mit der akademischen Ethik ab. Er hält sie schlicht für wirkungslos, da sich kaum jemand mit ihr beschäftigt. Dies liegt zum einen daran, dass sich die Ethik vor allem im universitären Elfenbeinturm abspielt, statt sie auch den »normalen« Menschen näherzubringen. Zum anderen kritisiert er die weitverbreitete unverständliche und unnötig komplizierte Sprache der Ethik: »Eine unverständliche Ethik ist der Inbegriff des Absurden, ein Widerspruch in sich, eine Ausgeburt des Sinnlosen.«

So bleibt der akademischen Ethik nur die »Alibi-Funktion«:
Sie bietet die Möglichkeit, für die eigenen emotionalen Wünsche rationale Begründungen zu »erfinden«, deren Ergebnisse schon vor der Untersuchung feststehen: »Unsere individuell und kollektiv akzeptierten Vorstellungen von dem, was »richtig« ist, sind wohl in nicht zu überschätzendem Maße Produkte emotionaler und irrationaler Vorurteile und Wünsche.« Außerdem schützt das Nachdenken über Ethik vor eventuellen praktischen Schritten, denn »solange man darüber philosophiert, wie man handeln soll, braucht man gar nicht zu handeln.«

Das Versagen der akademischen Ethik ist aber keine Tragödie, denn für Kaplan besteht das Problem nicht darin, »daß wir nicht wissen, was wir sollen, sondern, daß wir nicht tun, was wir sollen.«
Unter Bezugnahme auf Schopenhauer ist er der Meinung, dass das Mitleid »die Triebfeder und die Grundlage der Moral« sei. Menschen können also durch Konfrontation mit dem Leiden zu ethischem Handeln motiviert werden.

Doch leider trifft das nicht auf alle Menschen zu. Der Großteil der Menschheit verschließt seine Augen vor der grausigen Realität, und dies oft genug mit Überzeugung.
Der psychologische Bereich reicht also nicht aus. Wir kommen an der philosophischen Frage nach der »richtigen« Ethik nicht vorbei.
Im Gegensatz zu der für ihn »überflüssigen und sinnlosen akademischen Ethik« bezeichnet er diese notwendige und sinnvolle Ethik als »praktische Ethik«.

Kaplan hebt hervor, dass es durchaus bemerkenswerte Übereinstimmungen über moralische Prinzipien gibt. Man denke z. B. an den Konsens, »daß Leiden schlecht ist.« Eine Frage nach dem »Warum« ist hier offensichtlich unsinnig. Für »vorwitzige« Philosophen, die doch auf eine Begründung bestehen, gibt es auch »ein probates Heilmittel: ab in die Folterkammer!«.

Neben der »emotionalen Motivation in Form des Mitleids« bedarf es für Kaplan also auch einer abgeleiteten rationalen Motivation. Hier hält er die berühmte »Goldene Regel« (»Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt sein willst«) für geeignet.

In den letzten Kapiteln werden noch die Fragen angeschnitten, was mit Menschen ist, die nicht moralisch handeln wollen, warum wir überhaupt moralisch handeln sollen und ob es nicht vernünftiger wäre, dem Leben ein Ende zu setzen.

Eine Verneinung der letzten Frage verknüpft Kaplan an folgende Bedingung: »Wenn wir Glücklichen uns für das Leben entscheiden, dann haben wir die verdammte Pflicht, den Unglücklichen beizustehen, wo immer wir nur können. Wer dieser absoluten Pflicht nicht mit größtem Ernst nachkommt, wer genießt, ohne zu helfen, den soll der Teufel holen und mit ewigem Leben bestrafen – als Tier, das Menschen ausgeliefert ist.«

Kritik

Irgendwie liest sich der Text unterhaltsam, und der eine oder andere Aspekt verdient sicher Beachtung. Das Problem ist jedoch: Kaplan hat mit seiner Leitthese einfach nicht recht, mehr noch, die Verurteilung der akademischen Ethik ist geradezu schädlich.

Ein kleiner historischer Exkurs ist hier hilfreich. Die angewandte Ethik als wissenschaftliche Disziplin ist »blutjung«. Sie fasste erst in den sechziger Jahren Fuß, und dies in den angelsächsischen Ländern. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde universitär fast ausschließlich um die Bedeutung moralischer Begriffe gestritten, um Subjektivität und Objektivität in der Ethik, auf jeden Fall immer über das Wesen der Ethik. In Deutschland war die angewandte Ethik noch länger verpönt. Es galt das Webersche Postulat der Werturteilsfreiheit: Mit »Fakten« sollte sich die Wissenschaft auseinandersetzen, nicht mit »Werten«. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Werten« war sozusagen ein Widerspruch in sich.

Während sich in den angelsächsichen Ländern die angewandte Ethik mittlerweile etabliert hat, ist ihr Wirken in Westeuropa noch eher marginal.

Der (kaum vorhandene) öffentliche Einfluss der angewandten Ethik ist in Deutschland gerade in letzter Zeit sehr schön zu beobachten. Man nehme z. B. eine Diskussionsrunde über moralische Fragen zur Embryonenforschung. Auf der einen Seite sitzen meist Mediziner, die für eine liberale Position in dieser Frage werben, auf der anderen Seite sitzt ein Bischof oder wahlweise auch ein Priester oder Theologe. Diese vertreten aber meist nicht die Meinung ihrer Religion, sondern die Meinung der »Moral«. Sie haben die bekannten »ethischen Bedenken« und halten (vermeintlich) die Fahne der Ethik hoch.

Die säkulare Ethik kann sich von dieser »Übermantelung« nur langsam befreien. Ihr aber dafür die Schuld zu geben, ist einfach absurd. Die Zeit, in der Religion und Moral nicht mehr gleichgesetzt werden, beginnt erst.
Sehr beeindruckend hebt dies Derek Parfit in seinem Buch »Reasons and Persons« hervor: »Der Gottes- und Götterglaube verhinderte die freie Entwicklung des moralischen Denkens. Von der Mehrheit offen bekannter Unglaube ist etwas ganz Neues und wird sich noch weiter ausbreiten. Weil er etwas so Neues ist, steckt die nichtreligiöse Ethik noch in den ersten Anfängen. Wir können noch nicht sagen, ob wir uns – wie in der Mathematik – alle einigen werden. Aber weil wir nicht wissen können, wie sich die Ethik entwickeln wird, ist es nicht unvernünftig, sich großen Hoffnungen hinzugeben.«

Nur Verwirrung schafft auch Kaplans Vorschlag, die »sinnvolle Ethik« als praktische Ethik zu bezeichnen und so von der »überflüssigen und sinnlosen akademischen Ethik« abzugrenzen. Der Begriff »Praktische Ethik« dient ja schon zur Abgrenzung der angewandten Ethik von der Meta-Ethik. Und überhaupt: Wie soll denn bitte diese Trennung aussehen?

Es ist also vonnöten, sich für eine Verbreitung der säkularen Ethik einzusetzen. Und dies auch (und vor allem) für eine Verbreitung der akademischen angewandten Ethik, gerade in Deutschland.

Neben dieser grundsätzlichen Kritik reizen auch einzelne Gedanken aus dem Buch (zumindest aus Tierrechtssicht) zum Widerspruch.

So gibt es beispielsweise für Kaplan in der Ethik Fälle »besonderer Gewissheit«, und diese sind gerade deshalb so gewiss, weil darüber eben nicht oder nicht mehr philosophiert wird. Als Beispiel nennt er die Menschenwürde: »Menschenrechte, Menschenwürde und körperliche Integrität befinden sich jenseits und über aller Diskutierbarkeit.« Hier nachzufragen gilt für Kaplan als »Inbegriff des Obszönen und Überflüssigen«, als »Inbegriff dessen, was nicht mehr begründet oder gerechtfertigt zu werden braucht.«

Aber folgende Frage sei nun doch mal erlaubt:
Ist nicht gerade die Undiskutierbarkeit der Menschenwürde das »Totschlagargument« für den Speziesismus?
Hat nicht gerade Peter Singer in Deutschland am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, wenn die Menschenwürde nicht diskutierbar ist?
Und weist nicht gerade Tom Regan immer wieder darauf hin, dass Menschen, die Tierrechte ablehnen, aber gleichzeitig für die Idee der Menschenrechte eintreten, das Prinzip der Menschenrechte und seine Begründung nicht richtig verstanden haben?

Um etwas aber »richtig« verstehen zu können, müssen stichhaltige Begründungen geliefert werden. Exakt mit dieser Problematik beschäftigt sich ja vor allem die Tierethik, da sie sich quasi von Natur aus nicht mit den bekannten Phrasen zur Menschenwürde zufriedengibt.

Provokativ lässt sich sogar sagen: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass vielen Menschen erst durch die Tierethik überhaupt ein direkter moralischer Status zugesprochen wurde, der ihnen (strenggenommen) der bis dato vorherrschende »Ratiozentrismus« vorenthielt (vgl. zu diesem Aspekt z. B. Anstötz: »Ethik und Behinderung«).

Von einer »Undiskutierbarkeit« sollte unter Berücksichtigung dieser Punkte gerade nicht gesprochen werden. Wer solche Argumente vorbringt, darf sich auch nicht wundern, wenn Tierrechtlern der Mund verboten wird, wenn sie vermeintlich »gefährliche« Fragen stellen.

Auch Kaplans Plädoyer für die »Goldene Regel« lässt Fragen offen. Zwar ist die Goldene Regel an sich recht plausibel. Aber die große Frage in der Ethik ist ja vielmehr, auf wen sich die Goldene Regel bezieht. Wer ist der Absender, und wer kann alles Adressat sein? Gilt sie nur unter »Vernunftwesen«, ist sie gerade aus Tierrechtssicht nicht zu akzeptieren.
Schließt sie aber alle empfindungsfähigen Lebewesen mit ein, läuft es auf eine präferenz-utilitaristische Version der Goldenen Regel hinaus , wie sie der jüngst verstorbene Moralphilosoph R. M. Hare konzipiert hat.
Aber diesen Utilitarismus lehnt ja Kaplan bekanntermaßen ab.

Auch hier ist man geneigt zu sagen: Ein Blick auf die Konsequenzen mancher Aussagen hätte nicht geschadet. Faierweise muss man hier aber anmerken, dass auf 76 Seiten viele Punkte zwangsläufig nur angerissen werden können.

Fazit

Trotz aller prinzipiellen Kritik lassen sich durchaus auch einige interessante Stellen finden. Das Buch kann somit, so steht zu hoffen, als »Appetitanreger« für eine Beschäftigung mit dem Phänomen »Ethik« dienen.
Wer aber eine Antwort auf die Frage sucht, weshalb eigentlich der ganze »Stress« mit der Ethik und einen Motivationsschub benötigt, ist wohl bei Peter Singers Buch »Wie sollen wir leben?« besser aufgehoben.

Thorsten Ullrich

Helmut F. Kaplan

Wozu Ethik?
Über Sinn und Unsinn moralischen Denkens und Handelns
Broschiert, 76 Seiten
Bad Nauheim: asku-presse, 2002
Preis: 12 Euro
ISBN 3-930994-12-7

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