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Buchkritik: Das Leben der Tiere von J.M. Coetzee (Ute Esselmann)

»Ich verstehe nicht. Was kannst du nicht sagen?« fragt der Universitätsdozent John Bernard seine Mutter Elizabeth, während er sie ohne Bedauern zum Flughafen bringt; im Stillen ist er froh daß der Besuch der unbequemen alten Dame ein Ende hat. Ihr Gastvortrag zum Thema Tierrechte am Appleton College, seinem Arbeitsplatz, war eine Nervenprobe für ihn. Die weißhaarige Elizabeth, als Schriftstellerin zu einigem Ruhm gelangt, ernährt sich vegetarisch und spricht am liebsten Klartext, wenn es um ihr Herzensthema geht; doch diesmal, so kurz vor dem Abschied, im Zwiegespräch mit John, fällt ihre Antwort noch deutlicher aus: »Es hat den Anschein, als bewegte ich mich völlig ungezwungen unter den Menschen, als hätte ich völlig normale Beziehungen zu ihnen. Ist es denn möglich, frage ich mich, dass sie alle an einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes teilhaben? Phantasiere ich mir das alles zusammen? Ich muß wohl verrückt sein! Aber tagtäglich sehe ich die Beweise. Eben die Leute, die ich verdächtige, liefern den Beweis, stellen ihnen zur Schau, bieten ihn mir an. Leichen. Leichenteile, die sie mit Geld gekauft haben.« Elizabeth scheut sich auch nicht, die Massenvernichtung der Tiere mit der Massenvernichtung der Juden im Dritten Reich zu vergleichen.

Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, Professor für englische Literatur in Kapstadt, zweimal ausgezeichnet mit dem Booker Prize (1983 für »Leben und Zeit des Michael K.«, 1999 für »Schande«) und mit seinen diversen Romanen inzwischen zu Weltruhm gelangt, hat dankenswerterweise auch eine Erzählung über unser Verhältnis zu Tieren geschrieben, über die Selbstverständlichkeit, mit der wir ihr Leben milliardenfach vernichten, über unser barbarisches Tun in Schlachthöfen und Labors, das manchen Menschen (wie der von Coetzee erdachten Elizabeth) so ungeheuerlich scheint, dass sie es – fast – nicht glauben können.

Die Erzählung beschreibt, wie Elizabeth die Familie ihres Sohnes in Waltham besucht und am dortigen College eine über zwei Tage sich ersteckende Gastvorlesung hält: Sie spricht über »Die Philosophen und die Tiere« (Tomas von Aquin, Platon, Descartes) und »Die Dichter und die Tiere« (Kafka, Rilke, Swift, Ted Hughes). Spannend für den Leser sind Elizabeths Ausführungen vor allen deshalb, weil sie unakademisch und furchtlos formuliert (»Ich sage, was ich meine. Ich bin eine alte Frau. Ich habe keine Zeit mehr, zu sagen, was ich nicht meine.«) und, wie schon erwähnt, auch den Vergleich zwischen Menschen- und Tiervernichtung nicht scheut. Außerdem hat Coetzee seiner Protagonistin manches in den Mund gelegt, was den Leser spontan widersprechen lässt, weil die Argumentation SCHEINBAR umständlich und anthropomorphisierend ist.

Der eine oder andere Bücherfreund wird »Das Leben der Tiere« wohl mehrmals lesen, nachdem es ihn beim ersten Mal stellenweise kräftig geärgert hat. Solche Hartnäckigkeit lohnt: Vermeintlich verstiegene Passagen gewinnen beim Durchdenken an Charme, weil sich entdecken lässt, dass ein spottlustiger, kluger, warmherziger Coetzee dahintersteckt – und nicht ein schlampig denkender, in Sachen Tierrechte dilettierender Hobbyphilosoph, wie man zunächst reflexhaft befürchten könnte. Um ein Beispiel zu geben: Elizabeth beschreibt ihrem Publikum die um 1915 auf Teneriffa durchgeführten Versuche des Psychologen Wolfgang Köhler, die als Intelligenzprüfungen an Menschenaffen mittels schwer erreichbar positionierte Bananen berühmt geworden sind. Anschließend spekuliert Elizabeth über den Seelenzustand des Schimpansen Sultan wie folgt: »Ob wohl seine ganze Geschichte, die damit beginnt, dass seine Mutter erschossen und er gefangen genommen wird, die sich dann mit seiner Reise im Käfig übers Meer fortsetzt und ihn schließlich als Gefangenen in diesem Insellager enden läßt, wo sadistische Spiele um das Futter herum gespielt werden, ob wohl das alles ihn dazu bringt, Fragen nach der Gerechtigkeit des Universums und dem Platz dieser Strafkolonie darin zu stellen«, führt ihn ein sorgfältig geplantes psychologisches Programm weg von ethischen und metaphysischen Fragen, hin zu den bescheideneren Gefilden der praktischen Vernunft. Und während er sich mühsame durch dies Labyrinth des Zwangs, der Manipulation und des Doppelspiels arbeitet, muß ihn klar werden, daß er auf keinen Fall aufgeben darf, denn auf seinen Schultern ruht die Verantwortung, dass er die Affenheit vertritt. (…) In seinem tiefsten Interessen ist Sultan nicht an dem Bananenproblem interessiert. Nur die hartnäckige Reglementierung durch den Experimentator zwingt ihn, sich darauf zu konzentrieren. Die Frage, die ihn wirklich beschäftigt, wie sie auch die Ratte und die Katze und jedes andere Tier beschäftigt, das in der Hölle eines Labors oder im Zoo eingesperrt ist, lautet: Wo ist meine Heimat, und wie gelange ich dahin?«

Das sind teils haarsträubende Unterstellungen – auf den ersten Blick,; doch wenn man bedenkt, dass die strikte Unterscheidung von Gedanken einerseits und Gefühlen andererseits nicht möglich ist und dass (wie wir heute wissen) zumindest einige Primatenarten zur Einfühlung in Andere und zur Perspektivenübernahme fähig sind, dann ist viel Wahres dran an dem, was Coetzee seine Protagonisten über Sultans Weltsicht und die seiner Leidensgenossen sagen lässt. Auch wird man den Eindruck nicht los, dass der Autor sich über Köhlers aus heutiger Sicht naive Herangehensweise lustig macht.

Das keine achtzig Seiten starke Werk ist mehr als empfehlenswert: Weil es die Hilflosen in Schutz nimmt. Und weil es ungewöhnlichen Stoff zum Nachdenken liefert und so für seine Leser eine Herausforderung darstellt. Dieser schlau ausgedachten, facettenreichen manchmal vertrackten Diskussion über Tiere und ihr Erleben würde man sich am liebsten anschließen: ein Zwischenrufer oder Mitredner sein, wenn es denn möglich wäre. Ob Coetzees persönliche Ansichten mit denen seiner Heldin Elizabeth übereinstimmen, bleibt natürlich offen – aber hoffen darf es der Leser allemal. (Außerdem im Band enthalten ist »Ein Bericht für eine Akademie« von Franz Kafka, weil Elizabeth sich ausführlich darauf bezieht.)

Ute Esselmann

(Zu diesem Buch bieten wir Ihnen auch eine Rezension von Sina Walden an.)

J.M. Coetzee
Das Leben der Tiere
Gebunden – ca. 80 Seiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2000
Preis: 10 Euro
ISBN 3-10-010817-5

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Andere Ausgabe

Dieses Buch ist auch als Hörbuch erhältlich. Eine Rezension finden Sie hier.

J.M. Coetzee
Das Leben der Tiere
Hörbuch, 2 CDs, 142 Minuten
Parlando, 2002
Preis: ca. 23 Euro

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