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Film: Der »Zeuge« des Schlachtens

Im Oktober 2002 erscheint »Der Zeuge« in deutscher Sprache. Howard Rosenberg von der Los Angeles Times hat den Dokumentarfilm in seiner wöchentlichen Kolumne vorgestellt. Wir geben die Kritik mit freundlicher Genehmigung wieder.

Der »Zeuge« des Schlachtens
… Sehr viel lobenswerter ist »Der Zeuge«, ein einzigartiger, unvergesslicher Dokumentarfilm – und wohlmöglich der beste Film über Tiere, der je gemacht wurde. Und ein Film, den die meisten Amerikaner nicht sehen können, wenn die Fernsehchefs nicht Rückgrat zeigen.

Der tierfreundliche HBO (ein privater Pay-TV-Sender, Anmerkung des Übersetzers) hat den »Zeugen« schon abgelehnt. »Wir fanden den Film gut, aber wir haben schon einige andere Produktionen über ähnliche Themen ausgestrahlt, und wir arbeiten außerdem noch an einem eigenen Film«, meint ein Sprecher. Auch »POV«, die PBS*-Serie mit Portraits von Persönlichkeiten, wäre ein perfekter Sendeplatz, doch die Filmer James LaVeck und Jenny Stein aus Ithaca im Staate New York haben auch von dort nichts gehört. (* PBS ist ein öffentlich-rechtlicher Sender in den USA, Anmerkung der Übersetzers).

Die große Bedeutung des »Zeugen« liegt in der Kombination des Themas mit einer gänzlich unkonventionellen Art, Grausamkeiten gegen Tiere anzuprangern. Es kommen zwar schauerliche Bilder vor, aufgenommen von Tierrechtlern mit versteckten Kameras. Doch der »Zeuge« ist kein missionierendes Schocker-Video. Er plädiert engagiert gegen das Abschlachten von Tieren zur Gewinnung von Fleisch oder Pelz. Gleichzeitig aber erzählt der Film eine sehr gefühlvolle Geschichte von persönlicher Erfüllung und Erlösung, und die ist bemerkenswert. Im Zentrum steht ein 44-jähriger Mann, dessen Leben sich radikal verändert hat. Eddie Lama hat eine Wandlung, eine persönliche Odyssee vom Tiere verachtenden »harten Kerl« hin zu ihrem Retter durchlebt. Diese Geschichte hat es verdient, verfilmt zu werden.

Der Filmemacher LaVeck traf Lama 1997 bei einer Tierrechtskonferenz. Er hörte die Geschichte seiner Verwandlung und erkannte das Außergewöhnliche daran. Ein Jahr später drehten LaVeck und Lama im weihnachtlichen New York den ersten von vier Filmen, die bei der jungen Organisation »Tribe of Heart« erscheinen sollen. Alle Produktionen handeln von einzelnen Menschen und ihrem ganz persönlichen Engagement für die Tiere.

Eddie Lama ist charismatisch und weit entfernt vom Stereotyp der Tierrechts-Aktivisten, unter denen man sich oft hysterische Demonstranten vorstellt, wunderliche Rentner mit zu viel Freizeit oder naturverbundene Ökos, die mit beiden Birkenstock-Tretern fest in ihren Elfenbeintürmen verwurzelt sind.

Statt dessen könnte die Stimme am Handy auch Joe Pesci im Mafia-Klassiker »Good Fellas« gehören. »Wir sind in den Straßen von Brooklyn aufgewachsen«, sagt Bauunternehmer Lama, in klaren Worten und mit New Yorker Tonfall. »Bei uns hing der gute Ruf davon ab, wie vielen Menschen man in den Hintern getreten hat. Jeder hatte einen zweiten Vornamen – »Der Fels«, »Der Hammer«, usw. Unsere Helden trugen tolle Schuhe und fuhren Cadillacs. Ich war da keine Ausnahme.«
Es ist schwierig, den jungen Eddie aus den gefährlichen Straßen Brooklyns mit dem Menschen in Verbindung zu bringen, der in diesem außergewöhnlichen Low-Budget-Film seine Katzen streichelt, in den Einkaufsstraßen mit einem umgebauten Transporter herumfährt und Fußgängern überdimensionale Videos von Pelztierfarmen und Schlachtaktionen zeigt.

Die Reaktionen der Weihnachtseinkäufer sind der herzergreifende Höhepunkt des Films. Einige beachten Lamas und seinen Wagen nicht. Anderen steht der Mund offen, und auf ihren Gesichtern sind Neugier, Schock, Bestürzung und Entsetzen zu sehen. Ein Mann zieht eine Grimasse, eine Frau dreht sich gequält weg. Ihre Empfindungen spiegeln wieder, was Lama Jahre zuvor erlebt hat.

»Bevor ich mich mit Tieren auseinander setzte, war mir jeder egal.«, erzählt er. »Ich war ein Alkoholiker. Als ich nüchtern wurde und die Selbstsucht zurückging, weinte ich über das Unglück eines einzelnen obdachlosen Mannes. Ich setzte mich für entrechtete Menschen ein. Ich ging auf die Straße und berichtete den Passanten von den Grausamkeiten, die an politischen Gefangenen in China verübt wurden. Doch als ich später das gleiche für die Tiere tat, erschraken die Leute, und mir wurde klar: Ich sprach über sie, denn jeder, der jemals einen Hamburger oder Hot Dog gegessen hat, ist ein Mittäter.«

Wenn Verdienste daran gemessen werden, wie viele »Erleuchtungen« man bei anderen Menschen vollbracht hat, dann spielt Eddie Lama in der obersten Liga. In seiner Gegenwart steht den Zuhörern und Zuschauern die Erkenntnis ins Gesicht geschrieben, als leuchte die Glühbirne der Erleuchtung direkt über ihrem Kopf.

Eddie Lama erzählt seine Geschichte mit viel Humor und Begeisterung und verschweigt dabei nicht seine gewalttätige Jugend und die Geringschätzung von Tieren, die ihm als Kind vermittelt wurde. Seine radikale Wendung begann, als er sich zögernd bereit fand, eine Katze aufzunehmen – und das nur, weil er sich eine Verabredung mit der Besitzerin erhoffte. Die Katze war charmant, und seine Vorurteile gegen Tiere begannen wie Domino-Steine zu fallen.
Als nächstes kam Moo Moo, eine adoptierte Streunerkatze, und setzte Lamas Kettenrauchen ein Ende. »Entscheidend war mein Gefühl, dass ich der Katze … Schaden zufüge. Wenn sie sprechen könnte, würde sie sich gegen den Rauch entscheiden. Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte schwören, dass sie gehustet hat.«
Noch eine dritte Katze veränderte Lamas Leben, der von ihm als kranker Streuner gerettete Bagel. Als Eddie Bagels Bein der Länge nach streichelte, fühlte sich das ganz genau so an wie ein Hühnerschenkel. Damit war auch das Thema Fleischkonsum erledigt.

Er informierte sich und sah grauenerregende Undercover-Filme mit Tieren, die in Fallen geraten waren oder die für ihren Pelz getötet wurden. Und er sah keinen Unterschied zwischen den Tieren im Film und seiner Katze. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Freund, dieses wunderschöne kleine Wesen, vergast, erschlagen oder zu Tode getrampelt wird, nur damit jemand ihm das Fell abziehen und ein paar Ohrwärmer herstellen kann.«

Lama erzählt, dass man für den Schlachthof bestimmten Schweinen Drogen verabreicht. Dass es vorkommt, dass ihnen die Ohren abgeschnitten oder die Schnauzen eingeschlagen werden. Viele überleben den Weg zum Schlachthaus nicht, viele andere sterben beim ersten Schlag noch nicht und werden lebend gekocht.
Lange vergessene Konzepte der Sünde kamen ihm in den Sinn. »Warum um alles in der Welt müssen diese Schweine so fürchterlich leiden? fragte ich mich. Ob das Menschen mit grauenhaften Sünden sind, die als Schweine wiedergeboren werden und dies jetzt als Strafe durchmachen? Vielleicht ist es Hitler, der hätte dies wenigstens verdient. Lauter so verrückte Ideen gingen mir durch den Kopf.«

Lama lenkte seine Verzweiflung in konstruktive Bahnen. Er baute einen seiner Firmenwagen in ein modernes Filmtheater um, das er »Faunavision« nennt. (Später gründete er die gleichnamige gemeinnützige Organisation und außerdem eine Katzenschutzorganisation namens »Oasis«.). Er fuhr mit dem Wagen mehrmals die Woche durch die Straßen, zusammen mit zwei Freunden, darunter seinem Schulfreund Eddie Rizzo. Den hat er in einem Restaurant zum Vegetarismus bekehrt, indem er ihm den grauenhaften Weg schilderte, den ein Schwein bis zu seinem Ende auf einer Pizza durchmacht.

Die Wahrheit kann schmerzhaft sein. Doch der »Zeuge« formuliert die Wahrheit in einer Weise, die es verdient hat, viele Menschen zu erreichen. Das sieht man auch an den vielen Preisen, die der Film gewonnen hat. Doch das kommerzielle Fernsehen wird sich kaum dafür interessieren. »Leute vom Fach haben uns gesagt, dass er niemals gezeigt würde«, sagt Produzent LaVeck. »Die Sender müssen ihre Anzeigenkunden zufrieden stellen.«

Von Howard Rosenberg, Los Angeles Times
Übersetzung: Matthias Boller (© 2002)

• Zum Video

Deutschsprachiges Video (VHS), Laufzeit 43 Minuten, Preis 9,90 Euro
Deutsche Fassung von Thomas Winger und Klaus Unterberger, 2002
Regie: Jenny Stein, Produzent: James Laveck

Ein Projekt von »tribe of heart«
Teil 1 der »animal people anthologie«

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