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Buchkritik: Elizabeth Costello von J.M. Coetzee

Ich habe lange gezögert, das Buch »Elizabeth Costello« von J.M. Coetzee vorzustellen, da seinen Hauptteil eine Erzählung bildet, die als Einzelausgabe schon früher erschienen ist und vor längerer Zeit hier bereits besprochen wurde, nämlich »Das Leben der Tiere«. (vgl. animal-rights.de, 2000)

Zunächst erschien mir nur dieser Teil in dem neuen Buch tierrechtsrelevant, aber bei wiederholtem Lesen meine ich nun doch, dass noch einige Hinweise von Belang sind, damit die Leser/innen die Bedeutung dieses Schriftstellers besser würdigen können.

Als wir J.M. Coetzee im Jahr 2000 entdeckten, konnten wir nicht ahnen, dass er drei Jahre später den Literatur-Nobelpreis bekommen würde. Das macht seine Werke natürlich noch gewichtiger und bringt ihnen größere Verbreitung. Dem frischen Nobel-Ruhm ist es wohl auch zu verdanken, dass sieben weitere (kürzere) Texte mit der Hauptfigur »Elizabeth Costello« aus den Schubladen des Autors mit dem »Leben der Tiere« zu einem Buch zusammengestellt wurden – ein Vorgang, der vermutlich von verlegerischem Geschäftssinn inspiriert wurde. Wie auch immer, so erfahren wir jedenfalls, dass Coetzee an seiner Figur weitergestrickt hat, ja, es scheint sogar, dass diese erfundene Person zu seinem Alter Ego geworden ist: von Beruf Schriftstellerin, nicht mehr jung, erfolgreich, für einige anspruchsvolle Romane hochgeschätzt, sehr gebildet, eine Intellektuelle, die von vielerlei Fragen umgetrieben wird – wie er selbst.

Außer der Protagonistin haben die Texte, die als »Lehrstücke« bezeichnet werden – unübersehbar eine Reverenz gegenüber Brecht – nichts miteinander zu tun. Sie handeln, soweit überhaupt von Handlung die Rede sein kann, von Literatur, von den Fragen, die einen »Hersteller« moderner Literatur bewegen. Es sind Gedankenströme und Gedankensplitter, die in einem ungeordneten inneren Monolog durch den Kopf der Literatin ziehen, durchsetzt mit Realitätspartikeln, Alltagstrivialitäten, Erinnerungen, Ablenkungen; Bruchstücke nur, Literatur als Labyrinth voller Spiegelscherben, kein glänzend polierter Spiegel mehr, der Realität vortäuscht. Nicht mehr nach Joyce und Kafka, auf die sich Costello-Coetzee ständig bezieht, zwei Dichter, die diesen Spegel zerbrochen haben, so wie die »moderne Malerei«, die sich ab Beginn des 20. Jahrhunderts von dem »naturgetreuen« Abbilden der äußeren Wirklichkeit abgewendet hat. Fragen ohne Antworten, Sinnsuche ohne Glauben an Sinn, Gespräche, die ins Nichts führen. In der Figur Elizabeth Costello unterstreicht der Autor die Inkongruenz dessen, was sie sagt, mit dem, was man nicht sagen kann, durch die Lustlosigkeit, mit der sie es sagt, durch ihre Müdigkeit, Schlaffheit, Zerstreutheit, durch das Fragmentarische ihrer Darlegungen, ihren Unwillen, Verständnishilfen zu geben. Es kümmert sie auch bei ihren Vorträgen nicht, dass ihr Schweigen auf gutwillige Fragen aus dem Publikum schroff und fast arrogant wirkt – der Künstler macht Angebote, interpretiert sich nicht selbst.

Wir kennen das alles schon aus dem »Leben der Tiere«. Viele hier, die die tollkühnen tierrechtlerischen Gedanken Elizabeths mit Begeisterung gelesen haben, mochten diese Dame trotzdem nicht: ältlich und welk, schlecht angezogen, ohne Kampfgeist, inkonsequent, und auch noch mit einer Ledertasche. Die sie selbst »obszön« findet. Warum tut uns Coetzee das an?
Ich kann versichern, dass Elizabeth auch in den neuen Texten nicht sympathischer wird. (Der erste, mit dem Titel »Realismus«, ist offenbar ein früherer, ein Vorläufer, in dem die Figur ihre Grundzüge erhalten hat. Hier trägt sie zu allem Unglück auch noch weiße Schuhe zu einem blauen Seidenkostüm.) Nein, ich habe auch keine Erklärung dafür, warum der Autor so versessen darauf ist, die Trägerin seiner Reflexionen mit abstoßenden Details zu versehen. Vielleicht eine Art umgekehrter Eitelkeit, ein verstecktes Selbstportrait? Eine diskrete Manier, die klugen Gedanken nicht einem liebenswürdigen, schönen, stilsicheren Menschen in den Mund zu legen, um sie nicht mit diesem »Trick« unterschwellig als gültige Wahrheiten zu »verkaufen«? Ein literarischer Akt, um die Inkongruenz von Leben und Denken, von Literatur und Wirklichkeit zu gestalten?
Wer in einem Buch Identifikationsfiguren sucht, Charaktere, die sich entwickeln, Konflikte, die so oder so gelöst werden, gemalte Seelenlandschaften oder dramatische Handlungen, wird hier nicht bedient. »Elisabeth Costello« ist kein Roman über eine interessante Person dieses Namens, die unter anderem auch Tierrechtlerin ist, sondern eine Kunstfigur, die dem Autor als Sprachrohr seiner Gedanken, seiner Selbsterforschung, dient.

Warum ich trotzdem Tierrechtler/innen auf das Buch hinweisen möchte, die sich nicht unbedingt für die Probleme des Realismus in der modernen Literatur oder Fragen des »oralen Romans« in Afrika interessieren mögen, ist das »Lehrstück 6« mit dem Titel »Das Problem des Bösen«. Hier kommt Coetzee nämlich noch einmal auf Costellos Vortrag aus dem »Leben der Tiere« zurück und auf den darin enthaltenen Holocaust-Vergleich. Unsere Elizabeth wird wegen jenes Vortrags zu einer Konferenz nach Amsterdam eingeladen, um darüber zu sprechen, warum das Böse in der Welt ist und ob man etwas dagegen tun könne. Sie ist mal wieder erschöpft und hat »alle Lust auf Streitgespräche verloren« und sagt sich, dass sie wohl nicht bei Trost sei, sich wieder Unannehmlichkeiten auszusetzen; sie fragt sich sogar, ob sie das nicht schon damals im Appleton-College hätte vermeiden sollen. Ein Rückzieher? Hat sie, das heißt hat Coetzee, nachträglich Angst vor der eigenen Courage bekommen? Hier wird es für uns spannend. Aber es zeigt sich, dass der Nobelpreisträger keineswegs feige zurückweicht.

Elizabeth erzählt uns sehr plastisch, was sie (das heißt er) nach jenem Vortrag (Buch) an Reaktionen erlebt hat: Vorwürfe, sie hätte den Holocaust verharmlost, Beschwerden jüdischer Studenten, die das College (den Verlag?) aufforderten, sich von ihren Äußerungen zu distanzieren, »ja, das College sollte sich darüber hinaus dafür entschuldigen, ihr eine Plattform geboten zu haben«. »Preisgekrönte Romanautorin des Antisemitismus bezichtigt« titelte eine Zeitung in ihrer Heimat, das Telefon klingelte pausenlos, meist wollten Journalisten ihr wohl eine skandalträchtige Formulierung entlocken; einmal auch eine anonyme Stimme, die »Faschistenschwein!« brüllte. »Plötzlich war sie es, die auf der Anklagebank saß.« Nun, das kommt einem doch alles sehr bekannt vor. Wie soll man auf solchen Unsinn antworten? Elizabeth Costello reagiert so, wie von ihr zu erwarten: überhaupt nicht. Es ist ihr zu blöd. Sie reflektiert nur noch einmal kurz, was sie in ihrer Rede gesagt hat: sie hatte »auf etwas hingewiesen, das sie als die Versklavung ganzer Tierpopulationen gesehen hatte und noch sieht. Ein Sklave: ein Lebewesen, über dessen Leben und Tod ein anderer entscheidet. Was sonst sind Rinder, Schafe, Hühner? Man hätte sich die Todeslager nicht ohne das Beispiel der Fleisch verarbeitenden Fabriken vor ihnen ausdenken können. … Für sie war es offensichtlich … Das Massaker an den Wehrlosen findet rings um uns immer wieder statt, Tag für Tag, hatte sie gesagt, ein Gemetzel, das sich in seinem Ausmaß, seiner Entsetzlichkeit oder seiner moralischen Bedeutung nicht von dem unterscheidet, was wir den Holocaust nennen, doch wir wollen es nicht sehen.« Und sie bringt es für sich auf den Punkt, begreift, warum sie sich plötzlich solchen absurden Anschuldigungen ausgesetzt sah: » VON GLEICHER MORALISCHER BEDEUTUNG – DAGEGEN HATTEN SIE SICH VERWAHRT.« Das aber ist eben ihre (seine) Einsicht – und dem hat sie nichts hinzuzufügen.

Und dann nimmt sie die Einladung nach Amsterdam an. Was dort geschieht – äußerlich geschieht, wie immer, fast nichts -, von welchen Gedankenstürmen Elizabeth heimgesucht wird, das formt Coetzee zu einem Meisterstück moderner Literatur. Es geht um die Frage, ob der Schriftsteller »das Böse« beschreiben darf, beschreiben in seiner ganzen vulgären Gemeinheit, und die Zusatzfrage, wieviel Wahrheit der Lesende verträgt. Ist die Darstellung der Körperlichkeit bei den Vorgängen des Folterns und Tötens obszön, weil sie eine geheime Anziehungskraft hat, weil die »Elektrizität des Bösen« auf den Schreibenden und den Lesenden überspringt? Oder kehrt sie, Elizabeth als Schreibende und Lesende, nur zu einer altmodischen Prüderie zurück, die Schutz bieten soll, wenn sich ihr Innerstes gegen solche Lektüre wehrt? Dergleichen Überlegungen werden quälend, widersprüchlich, vielfach gebrochen, dialektisch, emotionell und intellektuell aufgerollt und bleiben – natürlich – offen. Mit welchen Mitteln der schwierige Autor hier Inhalt und Form ineinanderwirkt und wovon er im einzelnen spricht, gehört in eine literaturkritische Betrachtung und soll uns in diesem Rahmen nicht beschäftigen. Es gibt aber noch einmal eine Stelle, die mit großer Deutlichkeit sagt, dass es bei dem, was Tieren angetan wird, auch um »das Böse«, den »Satan« geht. Und Coetzee stellt wieder den Zusammenhang zwischen dieser »Banalität des Bösen« und der des Nazireichs her. Was Elizabeth im Vorfeld ihrer Reise nach Amsterdam existenziell erschüttert und auch dort nicht zur Ruhe kommen läßt, ist die letzte Nacht der Männer des 20.Juli, über deren Hinrichtung sie in einem Buch eine ausführliche Schilderung gelesen hat, die nicht die politische, sondern die kreatürliche Seite beschreibt. Das reißt für sie einen Vorhang auf. Sie weiß natürlich, wir alle wissen, was da geschehen ist, die Entwürdigung, die Hinrichtung, wir wissen es aus historischen Darstellungen, Biographien, sogar aus Filmen. Aber plötzlich kommt es ganz nahe, wird physisch. »…wenn sie am Ende des Stricks zappeln, ihre Gesichter dunkelrot anlaufen, die Zungen aus dem Mund quellen und die Augen vortreten…«. Sie »will es nicht sehen!«, schreit, bringt es nicht los: Die IDENTIFIKATION mit den Geschundenen, mit allen Geschundenen, ist nicht mehr aufhebbar, die letzte Verdrängung durchbrochen. Der Henker, der sich noch einen Spaß macht, die Verurteilten zu verhöhnen, wird zur Inkarnation des Bösen. Er ist an vielen Orten, er ist, nahezu übergangslos, auch im Schlachthof:

»Wenn sich Satan nicht im Schlachthof drohend aufreckt und den Schatten seiner Flügel auf die Tiere fallen läßt, denen schon der Geruch des Todes in die Nase steigt, wenn sie den Laufgang hinuntergetrieben werden, dem Mann mit dem Bolzenschußgerät und dem Messer entgegen, einem Mann, genauso mitleidlos UND GENAUSO BANAL, … – wenn sich Satan nicht im Schlachthof drohend aufreckt, wo ist er dann?«

So spröde, so wenig eingängig, wie sich J.M.Coetzee gibt, ich meine, wir sollten es zu schätzen wissen, dass dieser gelehrte und geehrte Schriftsteller an dem Thema bleibt. (Schon in seinem 1999 erschienen und mit dem hochangesehenen Booker-Preis ausgezeichneten Roman »Disgrace« (»Schande«) wird die in den angelsächsischen Ländern alltägliche, fließbandmäßige Tötung von Hunden in sogenannten shelters, Tier»schutz«heimen, herzzerreißend nüchtern geschildert.) Wie üblich wird von der Fachkritik – und wohl auch vom Gros der Leserschaft – das von ihm nun wiederholt aufgegriffene Thema: die »GLEICHE MORALISCHE BEDEUTUNG« dessen, was Menschen oder Tieren angetan wird, überlesen, für unwichtig erachtet, ratlos beiseite geräumt, nicht erwähnt. Umso mehr sollten wir diesen Aspekt bekannt machen. Wir haben nicht alle Tage einen Nobelpreisträger.

(Nebenbei bemerkt gibt es schon einige, deren entsprechende Gedanken gewohnheitsmäßig unterschlagen werden, zum Beispiel G.B. Shaw, Bertha von Suttner, Ludwig Quidde, Elias Canetti, J.B. Singer. Wie denn auch umgekehrt bei der Würdigung der Preisträger beim Nobelpreis für Medizin kaum davon die Rede ist, dass die Auszeichnung mit der Opferung Tausender von Tieren erworben wurde. Doch diese in den Nobelpreisen gespiegelte Unverbundenheit moralisch-philosophischer und naturwissenschaftlicher Weltsicht soll ein andermal ausführlicher beleuchtet werden.)

Es drängt mich noch zu erwähnen, dass die Übersetzung des Buchs durch Reinhild Böhnke ganz außerordentlich ist. Der Sprachduktus, die Tonart, die Wahl der Wörter lassen an keiner Stelle den Eindruck aufkommen, dass es sich nicht um einen Originaltext handelt. Es liest sich wie eine wunderbar in schöner deutscher Sprache geschriebene Dichtung.

(Der Übersetzerin kann es ja nicht angelastet werden, dass der Verlag unkritisch die Vorgaben der unseligen »Rechtschreibreform« übernimmt, übrigens auch in den Teilen, die ohnehin demnächst wieder zurückgenommen werden, der Getrennt-und Zusammenschreibung. So liest man denn, dass die Offiziere des 20. Juli bei ihrem letzten Gang »voll scheißen«, also sich sozusagen mit Genuß erleichtern, wenn doch Coetzee gerade ihre kreatürliche Not zeigen will, wenn sie sich »vollscheißen« wie die armen Tiere, die zur Schlachtung geführt werden.)

Sina Walden

J.M. Coetzee
Elisabeth Costello
Gebunden – 285 Seiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2004
Preis: 19,90 Euro
ISBN 3-100-108-205

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